«Wir erfahren heute mehr Wertschätzung»

Erstellt von Lisa Maire |
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Vor 15 Jahren, als das Sozialzentrum Albisriederhaus eingeweiht wurde, lag die Stadtzürcher Sozialhilfequote auf einem Höchststand. Inzwischen ist die Quote deutlich gesunken. Ein Gespräch mit Zentrumsleiter Thomas Bachofen über die Arbeit der Sozialzentren im Lauf der Jahre und in der Corona-Krise.

Thomas Bachofen sitzt beim Gesprächstermin hinter seinem Schreibtisch, die Journalistin nimmt in Corona-gebührlichen Abstand an einem zweiten Tisch Platz. Die Tischplatte sei frisch desinfiziert, betont der Leiter des Sozialzentrums Albisriederhaus. Abstand und Hygiene: Das Corona-Schutzkonzept lasse sich im ganzen Haus gut umsetzen, ob am Empfang oder in den Büros der Quartierteams, versichert er. Auf Masken verzichte man deshalb – ausser ein Klient, eine Klientin bestehe darauf.

Sozialzentren systemrelevant

Fest steht jedoch: Die Corona-Pandemie hat die Arbeit in den Sozialzentren ziemlich durcheinandergewirbelt. «Jede Krise im Arbeitsmarkt hat Auswirkungen auf die Sozialdienste», so Bachofen. Auch im Albisriederhaus wurden viele Menschen, vor allem Selbstständige und Kleinstunternehmer, vorstellig, die plötzlich keine Einkünfte mehr hatten. Doch die Stadt habe sehr schnell mit einem Nothilfeprogramm reagiert. «So konnten wir finanzielle Überbrückungen anbieten, um zu vermeiden, dass jemand in die Sozialhilfe abgleitet.»

«In der Coronakrise zeigte sich, dass unsere Zentren systemrelevant sind», sagt Bachofen. Ihre Türen blieben deshalb offen. Zwei Drittel der Mitarbeitenden waren zwar im Homeoffice, blieben aber immer erreichbar für ihre Klientinnen und Klienten.

Inzwischen lägen die Erstanträge auf Sozialhilfe wieder auf dem gleichen Niveau wie vor dem Lockdown, freut sich Bachofen. Ob das auch künftig so bleibt, wisse natürlich niemand. Das hänge von der Entwicklung der Konkurs- und Arbeitslosenzahlen sowie der Dauer der flankierenden staatlichen Massnahmen ab. «Wir müssen auf eine Zunahme bei den Sozialhilfeanträgen vorbereitet sein, aber wir hoffen, dass es nicht passiert», fasst er die Unsicherheiten zusammen.
Manche mögen durch die Auswirkungen und Einschränkungen der Corona-Pandemie dünnhäutiger geworden sein. «Es gnüegelet» umschreibt Bachofen das vielbeobachtete Empfinden. Aggressiver sei die Stimmung in den Sozialzentren aber nicht geworden. Im Gegenteil: «Die Klientinnen und Klienten des Albisriederhauses reagierten dankbar, dass wir auch im Lockdown da waren für sie.» Besonders traf dies in Fällen zu, wo Vereinsamung drohte: Die Gespräche mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern – damals vor allem am Telefon – wurden länger. Allerdings: Abklärungen der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), in deren Auftrag die Sozialzentren Massnahmen umsetzen, waren im Lockdown weniger zahlreich. Dafür gebe es jetzt eine Zunahme, stellt Bachofen fest. Seine Interpretation der Entwicklung: «Einerseits hat der Lockdown den familiären Zusammenhalt gestärkt. Wo dieser vorher schon brüchig war, konnte sich die Situation verschlimmern.»

Offener, wohlhabender, gebildeter

Die Arbeit der Sozialzentren habe sich recht stark verändert, blickt der Albisriederhaus-Leiter auf die letzten 15, 20 Jahre zurück. Alleine schon weil die Gesellschaft sich verändert habe. Sie sei heute offener gegenüber anderen Kulturen, neuen Lebens- und Verhaltensformen. Andererseits wurde die Stadt sozial viel durchmischter. «In Albisrieden hatten wir früher einen hohen Bevölkerungsanteil im AHV-Alter. Das ist inzwischen nicht mehr so», bilanziert Bachofen. Altstetten habe sich noch dynamischer entwickelt. Obwohl die Einwohnerzahlen stark wuchsen, entwickelte sich die Sozialhilfequote rückwärts – im gesamtstädtischen Schnitt von 6,6 Prozent im Jahr 2005 auf 4,9 Prozent Ende 2019. In Albisrieden fiel sie in der gleichen Zeit von 5,7 auf 3,4 Prozent, in Altstetten (inklusive Grünau) von 8 auf 5,3 Prozent. Nur infolge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/16 nahmen die Quoten vorübergehend wieder etwas zu. Asylsuchende würden allerdings in den ersten fünf bis sieben Jahren über die Asylorganisation AOZ unterstützt, erklärt Bachofen. «Nur jene Flüchtlinge, die es nach dieser Zeit nicht schaffen, ihre Existenz selber zu sichern, kommen zu uns in die Sozialzentren.»

Ob eigene Existenzsicherung gelingt, hängt primär vom Zugang zu einer Arbeitsstelle ab und ist grundsätzlich auch eine Bildungsfrage. Migranten stünden da unter einem besonderen Druck. «Wir finanzieren deshalb auch Erstausbildungen und bei Bedarf Weiterbildungen über die Sozialhilfe», betont Bachofen. Er ist überzeugt, dass die gesunkenen Sozialhilfequoten nicht nur mit dem zunehmenden Wohlstand in Zürich zu tun haben, sondern auch damit, dass die Stadt sehr viel in Integrationsmassnahmen sowie verstärkt auch in Bildung investiere. Eine Rolle spiele zudem das bessere persönliche Beratungsangebot in den Sozialzentren. Früher seien die Fälle wegen mangelnder Personalressourcen eher administriert worden, so Bachofen. Heute nehme man sich mehr Zeit, auf Einzelfälle einzugehen.

Weniger Bashing, mehr Vertrauen

Veränderungen nimmt Bachofen auch im politischen Umfeld wahr. In den Nullerjahren sei die politische Stimmung gegenüber der Sozialhilfe – und gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung mit ihrer höheren Sozialhilfequote – noch deutlich angespannter gewesen, bilanziert er. «Heute erfahren wir viel mehr Wertschätzung.»

Die positive Entwicklung illustriert Bachofen mit einem Beispiel aus der Schulsozialarbeit, wo wachsende Schülerzahlen zusätzliche Stellen erforderlich machten. Der Gemeinderat habe den entsprechenden Antrag nicht nur genehmigt, sondern von sich aus dem Stadtrat die Kompetenz verliehen, weitere Erhöhungen von Stellenprozenten künftig in eigener Regie vorzunehmen. «So etwas wäre vor ein paar Jahren nicht denkbar gewesen».

 

Breites Angebot

Die Zürcher Sozialzentren sind das Ergebnis einer Reorganisation der Sozialen Dienste, die in den 90er-Jahren in Angriff genommen wurde. Die Zentren gewährleisten persönliche und wirtschaftliche Hilfe und Beratung aus einer Hand sowie Informationen über zahlreiche Angebote im sozialen, beruflichen und soziokulturellen Bereich der jeweiligen Sozialregion. Das Albisriederhaus, zuständig für den Kreis 9, ging im August 2005 als letztes der fünf Sozialzentren in Betrieb. Mit rund 160 Mitarbeitenden ist es das zweitkleinste Zentrum. (mai.)