Zürcher Dokumentarfotograf über seinen Ukraine-Einsatz: «Immer wieder schlugen Mörsergranaten ein»

Erstellt von Dominique Rais |
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Der Stadtzürcher Dokumentarfotograf Jens Krauer ist Anfang Jahr in die Ukraine gereist – kurz bevor der Krieg ausbrach. Über mehrere Wochen dokumentierte er mit seiner Kamera das Leben einer ukrainischen Militäreinheit im Donbass. Mit Lokalinfo sprach er über seine Erfahrungen.

Es ist Januar, wenige Wochen vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs, als der Zürcher Dokumentarfotograf Jens Krauer (45) seine Kameraausrüstung packt und per Flugzeug nach Kiew reist. Es ist nicht sein erstes Mal in der ukrainischen Hauptstadt. Das war 2011.

«Ich habe damals während eineinhalb Jahren in Kiew gelebt und ge­arbeitet», erzählt Krauer im Gespräch mit Lokalinfo. Seither hat der Stadtzürcher Fotograf das osteuropäische Land mehrfach bereist: von Kiew, Tschernobyl über Lwiw und Donezk. Auch vor acht Jahren, während der Maidan-Proteste, war er dort.

Damals, im Frühling 2014, nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland, nahm der spätere Stellungs­krieg zwischen ukrainischem Militär und prorussischen Separatisten im Donbass in der Ost­ukraine seinen Lauf. Krauers Reise Anfang Jahr führt ihn in genau jenes umkämpfte ukrainisch­-russische Grenzgebiet nahe der Industrie­stadt Donezk.

«Die Gefahr, in dem Gebiet verletzt oder gar getötet zu werden, war omni­präsent»

Am Bahnhof erwarten ihn schon zwei Männer der ukrainischen Einheit, die er von da an während mehreren Wochen mit seiner Kamera für ein Langzeitfoto­projekt über das Leben der Menschen in der Ukraine begleiten wird. «In einem Jeep fuhren wir direkt zur Militär­basis», sagt Krauer. Die Einheit, die in Sichtweite der Stadt Donezk liegt, zählt mehrere Dutzend Männer im Alter von 20 bis 60 Jahren.

«Im zivilen Leben arbeiten die Männer als Mechaniker, Köche oder Lastwagenfahrer. Einige von ihnen sind Studenten. Viele haben Frau und Kind zu Hause. Doch um ihr Land zu verteidigen, riskieren sie ihr Leben.» Sie alle brachte der seit Jahren schwelende Konflikt in der Grenzregion zusammen.

Flucht aus der Frontzone im Donbass

Die Lage im Donbass spitzt sich während Krauers Aufenthalt mit jedem Tag weiter zu. «Auf der Militärbasis wurde die Anspannung, die schon eine Weile in der Luft lag, geradezu greifbar», erinnert sich der Dokumentarfotograf. Die Scharmützel an der Grenze häufen sich.

«Unweit unseres Standorts schlugen immer wieder Mörser­granaten ein. Die Gefahr, in dem Gebiet verletzt oder gar getötet zu werden, war omni­präsent», so Krauer. «Immer mehr Menschen verbarrikadierten sich in ihren Häusern, verrammelten die Fenster mit Brettern.» Um sich vor Kugeln und Granatsplittern zu schützen, stellen Bewohner gefüllte Wasserflaschen anstelle von Sandsäcken vor die Fenster.

Zeitgleich wappnen sich auch die ukrainischen Soldaten vor den Toren von Donezk für einen verstärkten Konflikt im Grenzgebiet. «Eine Woche vor Ausbruch des Kriegs hat die Einheit ihre Basis nochmals weiter befestigt und verstärkt. Mit einer russischen Invasion in die Ukraine und einem Krieg, der das ganze Land überzieht, hat damals aber niemand gerechnet.»

«Aus dem Stellungskrieg wurde ein unerbittlicher Artilleriekrieg»

Doch die Anzeichen einer un­mittelbar bevorstehenden Eskalation an der Kontaktlinie verdichten sich. Krauer erhält die Nachricht, dass sein geplanter Rückflug in die Schweiz gestrichen wurde. Der Zürcher Dokumentarfotograf muss innert Kürze das Land verlassen.

Nur Tage später, am 24. Februar, fallen russische Truppen in die Ukraine ein. Krauer ist da schon zurück in der Schweiz. Doch die Ereignisse in der Ukraine und das Schicksal der Menschen lassen ihn nicht los. Für ihn ist die Ukraine in all den Jahren zu einer Art Heimat geworden: «Ich fühle mich dem Land und den Menschen sehr verbunden und habe im Laufe der Zeit dort enge Freundschaften geschlossen.»

Krieg überzieht das Land mit Elend

Seit Kriegsbeginn bekommt Krauer fast täglich Nachrichten und Anrufe aus der Ukraine: «Ein Freund bat mich, seine Frau und sein Kind in Sicherheit zu bringen.» Die Verzweiflung ist gross, die Lage vor Ort dramatisch. Der Gefahr zum Trotz ­beschliesst der Dokumentarfotograf nur Tage nach seiner Rückkehr in die Schweiz, abermals in die Ukraine zu reisen. Es ist März. Von Zürich aus begleitet Krauer einen humanitären Einsatz, den er mitorganisiert hat.

«Nachts um 21.30 Uhr haben wir mit mehreren Fahrzeugen voll mit Hilfsgütern von Polen aus die Grenze überquert.» Doch seit Kriegsausbruch herrscht in der Ukraine ab 22 Uhr eine strikte Ausgangssperre. «Die Zeit war knapp. Aber über einen Verbindungsmann schafften wir es noch rechtzeitig, in einem Haus in einem kleinen Dorf nahe der Grenze Unterschlupf zu finden.» Und sie sind nicht die Einzigen. Im Haus treffen sie Dutzende Kinder, die der Krieg zu Waisen gemacht hat.

Das Elend des Krieges, es ist greifbar nah – auch in Lwiw, dem Übergabeort der Hilfsgüter­lieferung. Abertausende Ukrainer sind auf der Flucht vor den russischen Truppen in die Stadt im Westen des Landes geflüchtet – viele mit dem Zug. Die Menschen, denen Krauer dort am Bahnhof Lwiw begegnet, sie alle sind gezeichnet von Erschöpfung, Verzweiflung und Ungewissheit.

«Einige der Männer wurden bei Angriffen verletzt, andere getötet»

Fast drei Monate schon dauert der Krieg nun. «Aus dem einstigen Stellungskrieg ist ein unerbittlicher Artilleriekrieg geworden», sagt Krauer. Die russische Armee gewinnt im Donbass derweil an Boden. Der Kreml plant, das Gebiet zu annektieren. Noch halten die ukrainischen Truppen die Stellung. 

An der Front, inmitten der Gefechte, befindet sich auch die ukrainische Einheit, die Krauer Anfang Jahr begleitete. Mittlerweile musste die Truppe, wie Krauer aus sicherer Quelle weiss, mehrere Verluste verzeichnen: «Einige der Männer wurden bei Angriffen verletzt, andere getötet.»

Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Allein in den vergangenen Monaten haben die Gefechte Abertausende Tote und noch mehr Verletzte gefordert – unter ihnen auch viele Zivilisten. Dennoch, Krauer plant, in den nächsten Monaten erneut in die Ukraine zurückkehren: «Auch wenn es logistisch schwierig ist. Die Vorbereitungen laufen.»


Eine Auswahl von Jens Krauers Fotografien wird vom 13. bis 17. Mai anlässlich der Werkschau «Photo Schweiz» in der Halle 550 in Zürich ausgestellt.