Zum 14. Juni: «Das Frauenstimmrecht liegt in der mittleren Schublade rechts...»

Erstellt von Annemarie Schmidt-Pfister |
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Fast hundert Jahre bevor am 27. November 1990 als letzter (Halb-)Kanton Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene einführte, fand in Genf der erste Nationale Frauenkongress statt. Das war 1896 und die Schweizer Frauen wurden dabei ermahnt, sie «möchten doch Verbündete der Männer sein und nicht ­Feindinnen», gleichzeitig aber auch, sie «möchten sich doch bitte etwas zurückhalten mit ihren Forderungen».

1918 reichten die Nationalräte Hermann Greuli (SP) und Emil Göttisheim (FDP) je eine Motion ein, in denen der Bundesrat angehalten wurde, «Bericht und Antrag einzubringen über die verfassungsmässige Verleihung des gleichen Stimmrechts und der gleichen Wählbarkeit an die Schweizerbürgerinnen wie an die Schweizerbürger». Der zuständige Bundesrat Heinrich Häberlin (FDP) hatte es aber alles andere als pressant. Erst 16 Jahre später, 1934, übergab er das Geschäft unangetastet seinem Nachfolger mit dem Hinweis: «Das Frauenstimmrecht liegt in der mittleren Schublade rechts.»

Dort lag es für weitere Jahrzehnte, immer mal wieder hin und her geschoben, aufbereitet und wieder weggelegt. Nicht weniger als sechzehnmal wurde auf verschiedenen Ebenen über das Stimm- und Wahlrecht für Frauen abgestimmt, ehe es am 7. Februar 1971 endlich zum Ja auf nationaler Ebene kam. Dass es so lange dauerte, lag vor allem daran, dass allein die Männer das Sagen hatten: Neben dem Ständemehr brauchte es die Mehrheit der stimmberechtigten Männer.

Befragt nach der Motivation für ihren Einsatz in Sachen Frauenstimmrecht, antwortete kürzlich die ehemalige Luzerner CVP-Nationalrätin Judith Stamm: «Welche Frage! Gleichstellung ist für mich die Verwirklichung von Gerechtigkeit!» Genau darum ging es auch mir, als ich mich als junge Redaktorin im «St. Galler Tagblatt» für das Frauenstimmrecht starkmachte. Ich war zu jener Zeit – heute schier unvorstellbar – die einzige Frau auf der Redaktion. Pro-Kolumnen und Leitartikel für die Sache der Frau wurden von mir erwartet -–als Ausgleich zu den Contras der Männer und Kollegen. Und nicht nur der Männer: Gerade in der Ostschweiz gab es damals viele Frauen, die vom Frauenstimmrecht nichts wissen wollten.

So hatte ich oft an Streitgesprächen im Appenzellerland teilzunehmen, in der «Krone» und im «Bären» und im «Schäfli», um ein Ja für Frauenrechte und Gerechtigkeit in die Waagschale zu werfen. Nicht immer ganz einfach bei der «Träfheit» der Appenzellerinnen – zum Glück hatte mir meine Mutter ebenfalls Innerrhödlerblut mitgegeben, sodass die Wortgefechte mir oft auch Spass machten.

Als ich daher Petra Volpes Film «Die göttliche Ordnung» sah, schnappte ich schier nach Luft: So, genau so, hatte ich es damals erlebt in Gais und Gonten, Appenzell und Trogen, Hundwil und Herisau! In den gleichen Gassen und Strassen war ich unterwegs gewesen, hatte auf denselben Plätzen und an den gleichen Wirtshaustischen die Klingen und Wallhölzer für die Sache der Frauen gekreuzt.

Angefangen hatte es schon lange vorher. Nämlich damals, als ich als kleines Mädchen am Abstimmungssonntag jeweils meinen Vater zum Stimmlokal begleiten durfte – zu «meinem» Schulhaus, in dem ich unter der Woche ein und aus ging. Am Sonntag aber musste ich draussen bleiben – nur Männer durften hinein, Männer mit Stimmzettel und Stimmrechtsausweis. Auch meine Mutter – unter der Woche immerhin Schulärztin – durfte das Schulhaus nicht betreten. Wohl aber Johann, der Knecht vom Bauern nebenan – lieb und «kindlichen Gemüts» und des Schreibens und Lesens unkundig.

Das erschien mir schon damals als derartige Ungerechtigkeit, dass es mich wohl für den Rest des Lebens prägte. Bis zum Alter von 27 Jahren – die ehemalige LdU-Ständerätin Monika Weber, Jahrgängerin, hat es mir vorgerechnet – hatten wir keine politischen Rechte. Wir waren längst volljährige und politisch engagierte Frauen – und mussten noch immer «draussen bleiben»!

Natürlich waren nach dem Ja der Männer am 7. Februar 1971 noch weitere Ungerechtigkeiten abzubauen – Lohnungleichheit gehörte auch dazu und anderes mehr. Dies wurde mir bewusst, als ein ehemaliger Mit-Gymnasiast im Redaktionsbüro neben mir einzog. Vertraut, wie wir uns waren, gab er mir bereitwillig und gegen die Sitten Auskunft über die Höhe seines Lohns – eine halbe Stunde später sass ich wutentbrannt im Büro des Chefredaktors. Immerhin hatte ich einige Jahre mehr Berufserfahrung und einige Gleichberechtigungs-Kolumnen und -Leitartikel mehr auf meinem journalistischen Palmarès! Aber trotzdem viel weniger auf dem Lohnkonto als mein eben eingestellter Kollege…

Natürlich gibt es auch heute noch Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Aber einiges, sogar ziemlich vieles, wurde doch erreicht, und so geben wir «Blaustrümpfe» von damals denn gerne das Wallholz weiter an junge engagierte Kolleginnen und Kollegen, die auf dem aufbauen, was vor hundert Jahren angefangen wurde. Damit das, was damals «in die Schublade rechts» gepackt wurde, künftig zuoberst auf dem Schreibtisch liegen möge.

*Die Autorin Annemarie Schmidt-Pfister (77)ist langjährige «Küsnachter»-Kolumnistin und erinnert sich an die Anfänge ihrer Politisierung als Frauenrechtlerin.

Zum Frauenstreiktag 2021 vom kommenden Montag, 14. Juni, zu mehr Lohngleicheit und weiteren Themen bei der Gleichstellung von Frau und Mann finden in Zürich verschiedene Anlässe statt. Mehr Angaben unter: www.frauenstreikzuerich.ch; www.feministischerstreikzuerich.ch/events oder www.14juni.ch.