«Zwingli gehört nicht auf einen Sockel»

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«Willkommen daheim!»: Andrea Marco Bianca,

reformierter Pfarrer von Küsnacht, hiess am

Dienstag den Reformator Huldrych Zwingli in Zürich willkommen – zumindest dessen Statue, die er vor mehr als einem Jahr vom Sockel holen liess.

«Willkommen daheim!»: Andrea Marco Bianca, reformierter Pfarrer von Küsnacht, hiess am Dienstag den Reformator Huldrych Zwingli in Zürich willkommen – zumindest dessen Statue, die er vor mehr als einem Jahr vom Sockel holen liess.

«Der da oben», sagte Andrea Marco Bianca und zeigte auf die 800 Kilo schwere und sieben Meter hohe Statue, die wenige Minuten zuvor mit einem Kran auf ihren Sockel gehievt worden war, «das ist der Zwingli des Bildhauers Heinrich Natter, das Werk eines Künstlers.» Der Zwingli aber, der uns die Botschaft der Reformation gebracht habe, gehöre nicht auf einen Sockel. «Der Leutpriester vom Grossmünster ist stets hinuntergegangen zu den Leuten – er wollte mit ihnen auf Augenhöhe sein.»

So sprach der Küsnachter Pfarrer am Dienstag hinter der Wasserkirche, wo das Zwingli-Denkmal vor 135 Jahren eingeweiht worden war, keine 200 Meter vom Grossmünster entfernt, wo der Reformator vor 500 Jahren die neue Heilslehre verkündet hatte – und wo Andrea Marco vor 58 Jahren in der reformierten Gemeinde aufgenommen worden ist. «Gut möglich», sinniert der Pfarrer, «dass mit meiner Taufe an diesem Kraftort meine weitere Zukunft schon aufgegleist worden ist – der Weg, der mich in den Dienst der reformierten Kirche führte.»

Calvin, Luther und Zwingli

Die erste Seminararbeit des Theologiestudenten Bianca befasste sich denn auch mit den Reformatoren Calvin, Luther und Zwingli und führte zur Erkenntnis, dass es der Zürcher war, der die widersprüchlichen Thesen der anderen mit dem Postulat auflöste, dass wir unsere Mitmenschen so behandeln sollen, wie wir selbst auch behandelt werden wollen.

Der akademischen Auseinandersetzung mit Zwingli folgte vor zwei Jahren eine sehr persönliche Erfahrung auf der kulturellen Ebene. Im Vorfeld zum Zwingli-Jahr 2019 schlüpfte Bianca sozusagen in die Haut seines Idols: Im Ensemble des Küsnachter Laientheaters Kulisse spielte der Pfarrer die Rolle des Zwingli, der in der letzten Szene im Dialog mit seinem Freund Konrad Schmid – auch er ein Küsnachter, er war hier der Comptor –, den unvergessenen Satz zitiert: «Tun wir um Gottes Willen etwas Tapferes!»

Beim Züri-Fest 2016, als die Festlichkeiten zum drei Jahre später geplanten Zwingli-Jahr «500 Jahre Reformation» vorbereitet wurden, stellte Bianca mit Entsetzen fest, dass rund um die Statue eine ganze Reihe mobiler Bedürfnisanstalten aufgestellt worden war. «So nicht!», intervenierte der Pfarrer beim Fest-OK.

Drei Jahre später, als das nächste Züri-Fest mit den Jubiläumsfeierlichkeiten zur Reformation zusammenfiel, zeigte Biancas Intervention Wirkung: Huldrych Zwingli musste sich keine unappetitlichen Toitoi-Kabinen gefallen lassen und konnte sich frische Luft um die Patina wehen lassen, als er – durchaus in seinem Sinn – vom Sockel und unter die Leute geholt wurde.

Jetzt erst ergab sich die Gelegenheit, dem Leutpriester unters Gewand zu schauen: Der indiskrete Blick enthüllte das sich anbahnende Unheil: Die eiserne Stützstruktur des Denkmals war vom Rost zerfressen. Wenn da nicht rasch Abhilfe geschaffen wird, könnte Zwingli in absehbarer Zeit ganz von alleine von seinem Sockel stürzen. So kam es, dass Zwingli vom St. Galler Restaurator Peter von Bartheld renoviert werden musste, bevor er zurück auf den Sockel durfte.

Parabel zur Erschütterung in der Kirche

Pfarrer Bianca, dessen Stimme als stellvertretender Präsident auch im Zürcher Kirchenrat Gewicht hat, sieht im Rostfrass eine Parabel zum politischen Erdbeben, das seit Wochen die oberste Führung der Landeskirche erschüttert. Es geht um den überraschenden Rücktritt von Präsident Gottfried Locher, Andeutungen von Grenzüberschreitungen und unstatthaften Beziehungen, Vertuschungsvorwürfe und Spekulationen. «Und auch die Synode vom Montag lässt noch viele Fragen offen», bedauert Bianca. «Der reparierte Zwingli lehrt uns, dass man unter das Gewand schauen muss, um zu erkennen, dass die innere Struktur leidet.» Das gelte auch für die Landeskirche: «Jetzt ist höchste Zeit, dass ein wirklich integres Gremium die Struktur der Kirche repariert – und an dessen Spitze sollte endlich einmal eine Frau stehen!»

Er dreht sich noch einmal um, blickt hinauf zur Statue, dessen nachdenklicher Blick jetzt wieder nach Osten gerichtet ist – «dorthin, wo nach biblischer Auslegung das Heil erwartet wird. Aber auch in Richtung Kappel am Albis, wo Zwingli den Märtyrertod gestorben ist, an der Seite seines Freundes Konrad aus Küsnacht.»

Die Bibel, die Zwingli in der rechten Hand hält, bezeichne den Frieden, und das Schwert, auf das sich die Linke stützt, symbolisiere nicht den Krieg, führt Bianca aus, es stehe vielmehr für die Gerechtigkeit. «Und damit hat der Künstler ein historisches Ereignis vorweggenommen, das vor dreissig Jahren in Basel Kirchengeschichte schrieb – es war die erste ökumenische Versammlung unter dem Motto «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung».

Letzteres kann man durchaus auch als Hinweis auf den Klimawandel verstehen, der damals noch kein weltumspannendes Thema war. Aber vor 500 Jahren, als Huldrych Zwingli von Pestbeulen übersät in Zürich mit dem Tod rang, konnte auch niemand ahnen, dass seine Statue dereinst während einer weltumspannenden Pandemie unter Quarantäne gestellt werden würde. (Daniel J. Schüz)