Würde es Zwingli in Anbetracht der heutigen Arbeitsethik immer noch «den Hut lupfen»? Diese und ähnliche Fragen standen im Zentrum eines Cheminée-Gesprächs über den Arbeiter-Zwingli, der für den Kreis 11 in Oerlikon steht.
Über das Thema Arbeit nachdenken – dazu lud die Reformierte Kirche die Bevölkerung im Rahmen der Aktivitäten rund um den Arbeiter-Zwingli ein, der auf dem Max-Bill-Platz in Oerlikon steht. Als Finissage war ein Cheminée-Gespräch in der Senevita Residenz Nordlicht angesagt, an dem Zwingli-Aktion-Gestalter Lukas Meier, Pia Meier, Journalistin und Präsidentin vom Quartierverein Affoltern, Andi Wüest, Steinbildhauer und Präsident vom Quartierverein Seebach, Markus Dietz, Pfarrer der reformierten Kirche Seebach, und Ralph Müller, Pfarrer der reformierten Kirche Oerlikon, teilnahmen. Letzterer liess in seinem Einführungsreferat die Zeit vor 500 Jahren wieder aufleben, als Arbeit aus Sicht der Reichen und der Gebildeten einen sehr geringen Stellenwert hatte. «Arbeit galt als weniger ehrenhaft als die ständige Beschäftigung mit Gott, wie die Bettelmönche das betrieben. Zwingli fand diese Einstellung ganz schlimm. Für ihn waren alle Menschen «berufen» zu arbeiten, und jede Arbeit war eine Tätigkeit für Gott.
Kampf dem Sittenzerfall
Ein weiterer Dorn im Auge waren Zwingli auch die zahlreichen Söldner, die für Geld in den Krieg zogen und die übrige Zeit in Zürich Saufgelage und Raufereien veranstalteten. Zwingli setzte ein Sittengericht zusammen, das «Delikte» wie Alkoholmissbrauch, Fluchen, Glücksspiel, Prostitution, aber auch ausschweifender Tanz oder Verschwendung ahndete. Zürich wurde so zu einem sittenstrengen Polizeistaat, in dem Denunziantentum seine Blüten trieb.
Oerlikon als Zentrum der Arbeit
Dass in Oerlikon ein Arbeiter-Zwingli zu stehen kam, kommt nicht von ungefähr, erlebte Oerlikon doch in der Zeit der Industrialisierung einen beispiellosen Aufschwung. Das schlug sich auch im Bevölkerungswachstum nieder: Von rund 180 Einwohnern im Jahr 1757 wuchs die Gemeinde bis ins Jahr 1941 auf fast 19 000 Bewohnerinnen und Bewohner an. Der grösste Teil von ihnen arbeitete in den Oerliker Fabriken wie MFO und SRO – und das bis 16 Stunden am Tag und zu Löhnen zwischen 77 Rappen und 1.44 Franken pro Tag.
Was hätte Zwingli dazu gesagt? Wie würde er die heutige Arbeitsmoral und -ethik beurteilen? Die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer waren sich einig: Vieles ist sehr viel besser geworden. Wichtig ist es für die heutige Jugend, eine Arbeit zu finden, die auch Spass macht, und eine gute Ausbildung zu absolvieren. Was Zwingli weniger Freude bereiten würde, ist die weit auseinandergehende Schere, die es bei den Entlöhnungen gibt. Dass ein Bankdirektor unglaubliche Summen abkassiert, während eine Verkäuferin kaum über die Runden kommt, würde Zwingli definitiv «den Hut lupfen».
Ein zweiter Wahlgang und eine Überraschung
Erstmals konnten am Wochenende die reformierten Stimmberechtigten der Stadt Zürich (schon ab 16 Jahren und inklusive Ausländern) an der Urne die Behörden der Kirchgemeinde Zürich wählen, also die 7 Sitze in der zentralen Kirchenpflege sowie die 45 Sitze im Kirchgemeindeparlament. Beim Leitungsamt erzielte Annelies Hegnauer am meisten Stimmen (3044), gefolgt von Res Peter (2915) und Michael Braunschweig (2691). Weil alle das absolute Mehr verpassten, geht der Wahlkampf in eine weitere Runde. Der zweite Wahlgang findet am 9. Februar 2020 statt. Entschieden ist die Zusammensetzung der neuen Kirchenpflege; Gewählt wurden Barbara Becker, Claudia Bretscher, Michael Hauser und Annelies Hegnauer von der bisherigen Übergangskirchenpflege. Hinzu kommen Michael Braunschweig, eher überraschend der 24-jährige Duncan Guggenbühl und Res Peter. Den Sprung ins siebenköpfige Gremium verpassten die neu kandidierende Anke Beining-Wellhausen und Henrich Kisker von der Übergangskirchenpflege. Andreas Hurter bleibt nun länger als geplant Kirchenpflegepräsident. Für Irritationen hatte er kürzlich gesorgt, weil er die Stelle des Geschäftsführers ausschreiben liess. Kritiker, zum Beispiel Res Peter, monierten, dass es stossend sei, einen neuen Geschäftsführer zu wählen, bevor der Präsident und das Exekutivgremium bekannt seien. (ls.)