Wer wird der Küsnachter Schreibstar 2020?

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Trotz Corona gibt es auch dieses Jahr den «booXkey»- Schreibwettbewerb. Neun Autorinnen und Autoren
haben zum Thema «Eine Begegnung» eine Kurzgeschichte geschrieben – das Voting kann beginnen.

Die neun Kurzgeschichten sind geschrieben, jetzt sind die Stimmen der Leserinnen und Leser gefragt: Welche gefällt am besten? Im Rahmen des fünften «booXkey»-Schreibwettbewerbs wird bis Ende November gewählt. «Das Voting dauert noch bis 30. November», sagt Organisatorin und «booXkey»-Gründerin Susanna Vollenweider. Die Prämierung der ersten drei Geschichten findet dann am Donnerstag, 3. Dezember, um 20 Uhr statt. Aus Corona-Sicherheitsgründen dieses Mal vor dem Gemeindehaus.
Die Leser können ihre liebste Geschichte mit Angabe des Titels an folgende Adresse schicken: booxkey@bluewin.ch, über die Homepage www.booxkey.ch/kontakt/ oder auf dem Postweg an Susanna Vollenweider, In der Schübelwis 6, 8700 Küsnacht. Der Preis für den 1. Platz ist wie immer von der Gemeinde Küsnacht gesponsert, die Plätze 2 und 3 von «booXkey». Die Preisübergabe erfolgt durch ein Mitglied des Gemeinderats.
«Küsnachter machen etwas für Küsnacht» ist auch heuer die Grundidee. Die neun Kurzgeschichten können hier gelesen werden.

Momentan und aus technischen Gründen noch nicht aufgeschaltet sind die neuen Kurzgeschichten auf www.lokalinfo.ch/booxkey.

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Reinfall

Meine geniale Freundin meint, man müsse mit der Zeit gehen, auch um einen Mann kennenzulernen. Online sei jetzt gang und gäbe. Vielleicht hat sie ja Recht und ich werde sie dabei unterstützen. Ich kenne einige Paare, die sich so gefunden haben. Sie wollte es mit einer Internetplattform probieren, die eine vielversprechende Werbung macht: Jeden Tag verlieren sie  Kunden , worüber sie sich sehr freuen, aber vor allem, weil sie diese paarweise verlieren. Klingt verheissungsvoll, aber darf die Werbung so offensichtlich lügen? Hört sich nämlich eher so an, dass die Leute jeden Tag  kündigen, weil es einfach nicht geklappt hat. 

Meine geniale Freundin hat sich  allen Unwägbarkeiten zum Trotz bei einer Online Agentur angemeldet. Obwohl sie intelligent ist, hörte hier offenbar ihr rationales Denken auf. Weil ihr Wunsch und damit ihre Emotionen einfach zu stark waren, einen netten Mann kennenzulernen, einen zum Pferde stehlen und vieles andere mehr -  Hauptsache niveauvoll - dass sie nicht widerstehen konnte, diese Option auszuprobieren.

Es meldeten sich  immerhin 2 und einer von ihnen sogar telefonisch und der Mann wurde ihr mit jedem weiteren Anruf immer symphatischer , so dass sie sich mit der Zeit ein Date vorstellen konnte. Auf dem Foto war allerdings nicht so viel ersichtlich von ihm , halb profilseitig, bei Sonnenaufgang aufgenommen, fand sie den Mann auf dem Foto irgendwie akzeptabel. Schliesslich ist das  Aussehen  ja nur ein Teil einer Persönlichkeit und sie war inzwischen fast besessen von der Idee, eine Beziehung einzugehen. Als sie den Eindruck gewann, dass sie beide genug Interesse entwickelt hatten, vereinbarten sie ein Date.

Der Tag kam , ein Sonntag und sie stand erwartungsvoll am vereinbarten Treffpunkt in der Nähe des Bahnhofs. Hier stockte meine geniale Freundin in ihrem Bericht und ich war gespannt auf die Fortsetzung. Nachdem sie zweimal leer geschluckt hatte, fuhr sie weiter. In dem Moment als er aus dem Auto ausstieg wurde ihr blitzschnell klar, dass sie sich versehen hatte. In einer Hundertstel Sekunde erfüllten sich ihre schlimmsten Erwartungen. Das  konnte doch unmöglich der selbe Mann vom Foto und von den Telefongesprächen sein. Aber zum Nachdenken und gar um einen Plan zu entwickeln, blieb einfach keine Zeit.

Der Mann aber, der ihr dann die Wagentür aufhielt, war nicht nur hässlich, wobei die ungepflegte Glatze und die sehr einfache Kleidung fast vernachlässigbar waren gegenüber den tief eingegrabenen Furchen im Gesicht und den von dicken Brillengläsern verdeckten Augen. Anscheinend war die Begrüssung auch nicht so  herzlich wie sie erwartete.

Nachdem sie in seinem Wagen Platz genommen hatte, fragte er sie ob sie nun enttäuscht sei. Sie blieb ihm die Antwort schuldig

Nun hatte sie die Bescherung. Sie hatten sich verabredet, einen schönen Tag miteinander zu verbringen. Sie hätte vorsichtiger sein sollen und ich machte mir Vorwürfe, sie nicht gewarnt zu haben. Sie hätte sich besser nur zu einem Lunch verabreden sollen. Im Sekundentakt ging sie div. Szenarien durch. Sie hätte sich einfach umdrehen und davonlaufen sollen. Sie hätte dem Mann sagen, dass sie nicht diejenige sei, die er treffen will. Zu spät. Er fragte sie, ob sie die Isabelle Meiring sei, was sie mit der kleinsten Kopfbewegung, wozu sie in diesem Moment imstande war , bejahte. Viel später kam ihr in den Sinn, wie man sich aus einer solchen Situation einfacher hätte befreien können. Man müsste sich nur an einem Ort mit viel Publikum verabreden, einer Haltestelle, vor einem Einkaufszentrum, am Bahnhof meeting point, wo es leichter war, die eigene Identität zu verleugnen. Zu spät.

Der Mann sprach - sie würde sicher gern einen Kaffee trinken. Sie fuhren zu seinem Haus, einer hübschen Villa aus der Gründerzeit  und der Mann sprach ohne Punkt und Komma, er erklärte alles, was man sehen konnte und was man nicht sah, auch seit wann und wieso und weshalb es so sei.

Das Tor zum Haus war verschlossen, kein Ausweg in Sicht. Es kristallisierte sich mit jeder Stunde eine psychopathische Person heraus, ein nicht wirklich unglücklicher Witwer, der sich ständig mit Haus und Garten  beschäftigt sowie seine, gelinde ausgedrückt, unglaublich ausufernde Briefmarkensammlung, die  einen grossen Raum mit unzähligen Schränken füllte, bearbeitet. Der Präsident des  Briefmarkenverbands hätte dem Mann bestätigt, dass er  mit seiner grossen Sammlung  ohne weiteres bis zu seinem Tod damit beschäftigt sein könnte, auch falls er 100 Jahre alt würde. Briefmarken sammeln  war einmal, als man noch Briefe schrieb vor 100 Jahren und Weltreisen noch elitär waren. Jedenfalls passte diese Leidenschaft zu dem verschrobenen Charakter.

Die Besichtigung ging weiter: Nun wollte er ihr den Anbau zeigen. Sie gingen durch einen schwach beleuchteten Gang . Es fing eigenartig an zu riechen, es stank eher. Da öffnete sich eine Tür und sie wollte es nicht glauben. In zwei grossen Käfigen auf hohen  Beinen lagen ein Paar Reptilien, Echsen,  ein Leguan in einem und mehrere Schlangen im andern Käfig. Alle Tiere seien hochgiftig und man müsse aufpassen. Was sollte das nur bedeuten? Diese Tiere gehören in die Freiheit, allenfalls in den Zoo.  Aber er wollte seinen eigenen Zoo und seine eigene Gefahr. Absurder konnte es nicht mehr werden.

Inzwischen war sie hungrig und sie sagte sich, dass sie nach dem Lunch mehr Energie hätte, neue Fluchtmöglichkeiten zu erwägen, um die Sache abzukürzen. Das Gespräch in einem hübschen Gartenrestaurant entwickelte sich weiter zu einem Monolog des Mannes. Sie entschloss sich nun zu einem Angriff: Ob er überhaupt noch Platz hätte für eine Frau in seinem Leben. Er verglich anscheinend immer noch alle Frauen die er kennenlernte  mit seiner vor 13 Jahren verstorbenen Frau. Das sei nun aber anders und er wäre kompromissbereit.

Meine geniale Freundin wurde immer stutziger, dass er ihr überhaupt keine Fragen stellte.  Sie reklamierte z.B  auch ein Kompliment über ihr Aussehen. Das wäre doch das mindeste gewesen, dass man hätte erwarten können.  Sie hatte den Eindruck, dass er entweder unscharf sah oder dass ihm ihr Aussehen völlig egal war, Hauptsache eine Frau. Seine Brillengläser waren auch dermassen zerkratzt, dass er unschwer seine Umgebung korrekt wahrnehmen konnte. Ja , die Brille  würde überhaupt nicht mehr seiner Sehschärfe entsprechen und die Gläser wären durchs Putzen fast undurchsichtig geworden. Er hätte zugegeben, dass er seit Jahren zum Optiker müsste.

Der Lunch neigte sich dem Ende zu und sie versuchte , wenigstens die süssen Erdbeeren zu geniessen . Sie wollte nicht unhöflich sein, bat dann aber, gleich nach dem Essen zum Bahnhof zurück zu fahren, weil sie die Situation beim besten Willen  nicht mehr aushielt.

Am Bahnhof an der bye bye Bar endlich hatte meine geniale Freundin den rettenden Einfall: Sie sagte dem Mann, sie gehe zur Toilette. Als es dort aber keinen Hinterausgang gab, entschloss sie sich, dem Mann die einzige Frage, die er ihr anfangs gestellt hatte zu beantworten: Ja , die Enttäuschung sei nicht nur gross, sondern riesengross.

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Eine Begegnung

Vor ein paar Jahren hatte ich das Glück, nach Hawai reisen zu können. Eine Freundin hatte mir von einem Kurs dort erzählt mit einem Stimmheiler, was mich als Sängerin natürlich interessierte. Wir waren auf Big Island in einem sehr urtümlichen Resort untergebracht, wo uns dank Fliegengitterfenstern die Frösche mit ihren «cookies» in den Schlaf quakten. Die beiden Frauen, die alles organisiert hatten, überredeten den Heiler, in sein Programm auch ein Schwimmen mit den Delfinen einzubauen. Nach einem Versuch seinerseits war er gar nicht mehr davon abzubringen! Also starteten wir jeweils morgens um sieben zu der besten Bucht, die unsere Leiterinnen  durch ihr «Delfin-Telefon» herausgefunden hatten. Schon von weitem konnte man an den vielen Köpfen im Wasser sehen, wo sich die Delfine  aufhielten. Wir bekamen die Anweisung, mit unseren Flossen möglichst ruhig zu paddeln, um sie nicht zu verscheuchen. Leider war meine Taucherbrille undicht, und ich war die meiste Zeit damit beschäftigt, sie zu leeren. Trotzdem sah ich ab und zu einen Delfin von weitem, ja sogar mal eine ganze «Schule» von  zehn Tieren nebeneinander aufgereiht, ungefähr fünf Meter unter mir! Auf der Rückfahrt hörte ich aber viel spektakulärere Ereignisse von den andern. Eine Frau  hatte sogar mit einem Delfin gespielt, indem sie ihm ein Blatt hinhielt, er es schnappte und wiederbrachte.

Am dritten Tag hatte ich gerade wieder einmal freie Sicht – da schwamm ein Delfin auf mich  zu, der etwas Gelbes an der Seite hatte. Beim Näherkommen sah ich erst, dass seine Seitenflosse  einen grossen Riss hatte und das Gelbe wohl Wundsekret war. Unwillkürlich begann ich unter Wasser «Heile, heile Sääge» zu singen – und er verschwand wieder. Auf der Rückfahrt im Auto fragte ich die andern aus der Gruppe, ob sie diesen Delfin auch gesehen  hätten? Nein, niemand.

Am nächsten Tag kam er wieder bei mir vorbei. Seine Wunde war noch nicht besser. Ob er mich wiedererkannt hatte? Man weiss ja, dass die Delfine ein besonderes Gespür für Menschen haben.  – Jedenfalls freute ich mich, sang wieder für ihn und freute mich, trotz schlechter Taucherbrille doch etwas ganz Besonderes erlebt zu haben. Ich denke noch oft an diese Begegnung und hoffe, dass es «meinem» Delfin wieder gut geht.

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Kater Karlo - Don Carlo

Dies ist nun die vierte Wohnung, die sie heute besichtigen, an einem graubraunen Februartag, die Stimmung wie in einem DDR - Film der Nachkriegszeit. Parterre, geräumig, in einem Block am rechten Zürichseeufer.

Ländlich, mit Gartensitzplatz und Blick auf eine bauhistorisch geschützte Scheune.

Die Besitzerin ist angetan von dem seriös anmutenden Paar. Sie würde die beiden sofort als Mieter nehmen.

Er, knapp siebzig, pensionierter Opernhausmusiker, die Aura vergangener ruhmreicher Zeiten – glanzvolle Aufführungen, tosende Applause, Glorie, Premierenfeiern, weltweite Tourneen – haftet noch an ihm, sie, einiges jünger, neben ihm etwas zerbrechlich wirkend, seine Muse, seine Frau, Ex-Studentin der deutschen Literatur, die klassisches Ballett, Oper, Chopin und Literatur liebt, die beiden also stehen an diesem graubraunen Februartag auf besagtem Gartensitzplatz und überlegen, ob sie denn diese Wohnung nehmen sollen. Immerhin wäre sie nicht allzu weit entfernt vom Bahnhof Stadelhofen und vom Opernhaus. In ihrer Seele vibriert noch ein Nachklang des alten Zuhauses, einer romantischen Dachwohnung in einer alten Villa am linken Zürichseeufer. Aber dann, nach zwanzig Jahren, der kurzfristige Rausschmiss zwecks Abriss zwecks Neubaus, Stahl-Beton-Glas-Beton-Glas und Vergrösserung und Verdichtung und Tiefengarage.

Eigentlich stehen sie ziemlich verloren und unentschlossen, ja traurig auf dem Gartensitzplatz mit dem Blick auf die bauhistorisch geschützte Scheune und wünschen sich erneut in eine romantische Dachwohnung.

Da kommt ER. Ein imposanter, schwarz-weisser Kater stiefelt heran, selbstbewusst und schön.

Schau! Das ist ja Kater Karlo! ruft die Frau, aus der Melancholie auftauchend. Ah, jagenau, sagt der Mann mit aufgehellter Miene. Sie verstehen sich wie immer, auch jetzt, denn der Opernhausmusiker hat in seiner Kindheit ebenfalls Micky-Maus gelesen und kennt den Gauner-Kater bestens. Sie hebt Kater Karlo auf, er ist gewichtig, zutraulich legt er seine schneeweissen Pfötchen auf ihre Schulter. Der Opernhausmusiker und die Germanistin lieben Katzen. Gemeinsam streicheln sie  das seidene Fell, schwarz-weiss-schwarz-weiss, lächelnd, zärtlich. 

Er darf aber keinesfalls in die Wohnung, sagt die Wohnungsbesitzerin. Warum...wem gehört er denn? Niemandem, der streunt hier so rum, ist die Antwort.

Der Musiker und die Literatin schauen sich in die Augen. Tiefstes Einverständnis. Und das Wissen um die Schicksalhaftigkeit dieses Augenblicks. Sie lässt ihn den Satz, den beide zugleich in ihrem Innersten formuliert haben, aussprechen: Ist gut, wir nehmen die Wohnung.

Alle drei, der pensionierte Opernhausmusiker, an dessen imposanter Erscheinung noch der vergangene Ruhm haftet, die zierliche Frau, die weiterhin ins Opernhaus-Ballett-Training gehen würde, der kräftige, schwarzweisse Kater, dessen weisse Pfötchen noch immer auf ihrer Schulter liegen und sich festzugraben scheinen, zu dritt also betreten sie ihr neues, ja vielleicht endgültiges Zuhause.

Das Schicksal wird ihnen noch zwei gemeinsame Jahre gewähren.

Hunderte von Büchern und Cds, ein Kronleuchter, wenige Möbel, venezianisch, füllen bald die Wohnung, dazu Musik von Händel, Bach, Vivaldi, Mozart. Eine Katzenklappe, XL, wird in die Gartensitzplatz-Glastüre eingebaut. Kater Karlo wird verwöhnt. Er ist wirklich schön. Vier weisse Pfötchen, schwarze Beine, das linke Hinterbein jedoch gänzlich weiss, schwarzer Rücken, weisser Bauch, das weisse Gesicht geziert mit  dem typischen schwarzen Muster, Vorhang-Effekt, etwas schief, wie wenn jemand den Vorhang auf der linken Seite zu wenig weit geöffnet hat. Und sein Kragen! Ein prachtvoller, schneeweisser Kragen ziert seine Brust, umrahmt seinen Kopf.

Kater Karlo, sagt der Musiker, Kater Karlo ist DON CARLO!

Don Carlo kommt etwas unregelmässig nach Hause, manchmal bleibt er fern, manchmal ist er zutraulich, dann wieder weicht er aus. Er wird bedingungslos geliebt von den beiden. Gaunerkater, sagen sie manchmal zärtlich.

Don Carlo, der Gaunerkater mit dem Seidenfell, so fein wie das silberschimmernde Haar des Musikers und das seidendunkle, lange Haar der Literatin.

Die Frau findet eine Stelle als Französischlehrerin, der Mann wird noch etliche Male für Kirchenkonzerte und für Fagott-Solokonzerte engagiert, schliesslich ist er einer der besten Fagottisten europaweit, spezialisiert für Renaissance- und Barockmusik mit Original-Instrumenten, hatte unter den renommiertesten Dirigenten gespielt, Harnoncourt, Bernstein, Gardiner, Chailly, Cellibidache, Santi.

Man sieht das Ehepaar noch einige Male zusammen auf dem Weg zu Konzerten, er jeweils im schwarzen Anzug, das Fagott fest im Griff, sie im blauen Kleidchen nebenherschwebend. Don Carlo und der Musiker weisen frappante Ähnlichkeit auf, schwarz-weiss schwarz-weiss - und beide imposant.

Sie drapieren ihr ganzes Leben um den Kater, auch dann, als man beim Opernhausmusiker Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium diagnostiziert. Er tröstet sie – er Sarastro, sie Pamina- legt die CD mit der Opernarie “Vincerò“ aus Turandot mit Pavarotti auf, schenkt Prosecco ein.

Er wird noch vier Wochen Zeit haben. Carpe diem, sagt er jeden Tag.

Noch einmal spielt er an einem Konzert in der Kirche von Küsnacht. Johann Sebastian Bach. Diesmal, sagt er leise, diesmal spiele ich zum ersten Mal für mich.

Zehn Tage später stirbt er, ein Grandseigneur, würdevoll.

Nur ein Tag im Spital. In den Armen seiner geliebten Frau, seiner Muse, atmet er zum letzten Mal aus, in ihren Armen stirbt er.

Und als die Frau alleine in der Wohnung ist, besinnungslos vor Schmerz, kommt leise der Kater Don Carlo, schmiegt sich an sie und legt ihr seine weissen Pfötchen auf den Arm.

So bleibt er die ganze Nacht bis in den späten Vormittag.

Fünf Jahre sind seither vergangen.

Wohl erfüllt wieder Musik die sonst so stille Wohnung, doch der Glanz ist erloschen, die Welt untergegangen. 

Das Fagott des Musikers ist für immer verstummt.

Manchmal verbirgt die Frau ihr Gesicht im schwarz-weissen Fell des Katers, das so fein ist wie es das silberschimmernde Haar ihres Mannes war, und lauscht dem Schnurren.

Und das seidene Fell von Don Carlo fängt ihre Tränen auf.

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Dreimal ist genug

Samstagvormittag, Zeit für den Wocheneinkauf. Schnell trug sie etwas Puder auf, fuhr mit einem zartrosa Lippenstift über die Lippen und strich mit einer Hand durch die sportliche Frisur. Keine Zeit für Gedanken zu den leicht ergrauten Haarstreifen an den Schläfen. Schon stand sie neben ihrem kleinen Auto und kratzte die Scheiben. Es war Januar und dieses Jahr war er aussergewöhnlich schneereich und kalt. Ein gutes Sichtloch würde genügen. Sorgfältig fuhr sie die Alte Landstrasse hinunter. An der Florastrasse würde sie parkieren. Kaum war sie eingebogen, trat sie brüsk auf die Bremse. Ein Ruck. Es knallte. Hoppla. Eine Sekunde verstrich, bevor sie begriffen hatte, was geschehen war. Völlig überraschend war ein Auto aus dem seitlichen Parkplatz gebogen. Hatte er sie nicht gesehen? Oder hatte sie nicht aufmerksam hingeschaut? Zitternd vor Schreck sprang sie aus ihrem Wagen und rief dem Mann zu, der ebenfalls aus seinem Gefährt gestiegen war: «Donnerwetter, das hätte schlimm werden können!» «Und wie!» murmelte der Mann in der warmen Sportjacke und dem grauen Haar und eilte auf sie zu: «Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich weh getan?»  «Nein!» rief sie immer noch viel zu laut, wohl weil sie noch so erregt war. «Aber mein Auto? Haben Sie mich nicht gesehen?» Darauf erhielt sie keine Antwort, denn nun überprüfte er zuerst ihr Auto, danach seines.  Sie ging neben ihm her. Bei beiden Wagen waren die Lichter beschädigt. Das Vorderlicht bei ihrem Auto, das hintere bei seinem. Sonst war alles in Ordnung. Beide Fahrer fühlten sich gesund. Kurz atmeten sie auf. Doch, was war zu tun? Wer war schuld?

Eifrig diskutierten sie, dabei musste sie hin und wieder ihr Lachen zurückhalten, die Situation war irgendwie komisch. Dies musste auch er bemerkt haben.Sie sah, wie ein winziges Schmunzeln sein Gesicht streifte. War sie nicht genügend aufmerksam gewesen? Ihre Scheibe nicht genügend frei geputzt? Oder hätte er besser nach links schauen und noch etwas zuwarten sollen? Diese Fragen gingen ihr durch den Kopf. Aber sie waren sich einig, die Polizei wollten sie nicht bemühen. So kamen sie schliesslich überein, jeder lasse sein Auto reparieren. Daraufhin würden sie die Rechnungen vergleichen und den Aufpreis teilen. Gesagt, getan. So machten sie es.

Alles verlief wie geplant. Nach einigen wenigen Tagen war die Reparaturrechnung erledigt. Sie konnte alles vergessen, meinte sie. Hin und wieder dachte sie, wenn ihr Mann noch am Leben wäre, würde er sie sicher trösten. Ja, Trost hätte sie gebraucht in diesen Tagen. Sie war doch eine gute Autofahrerin.

Zwei Wochen später, es war wieder Samstag, legte sie wie immer noch etwas Puder und Lippenstift auf. Geschwind strich sie ihr leicht ergrautes Haar aus der Stirn. Wie gewohnt fuhr sie die Alte Landstrasse ins Dorf für den Wocheneinkauf. Und wie fast jeden Samstag fand sie einen Parkplatz an der Florastrasse. Zügig tätigte sie ihre Einkäufe und stieg in ihr beladenes Auto. Zufrieden steuerte sie ihren Wagen, vielleicht etwas zu schwungvoll, aus der Parklücke. Rumps. Es krachte! «Oh nein!» rief sie und kletterte aufgeregt aus dem Wagen. «Wie konnte dies geschehen! Haben Sie mich nicht gesehen? Donnerwetter!» Ein Herr stieg aus dem Wagen, graues Haar und warme Sportjacke. «Das darf nicht wahr sein!» konnte sie nur noch flüstern und abwarten, dass ein Donnerwetter über sie herziehen würde. Doch es kam keines. Stattdessen hörte sie ein vergnügtes Lachen: «Das gibt es doch nicht! Schon wieder Sie!» Da standen sie einander gegenüber, keiner wagte etwas zu sagen. Ihr war heiss und kalt geworden. Was war jetzt zu tun?

Wie das letzte Mal war bei beiden ein Licht defekt. Das eine Vorderlicht, das andere Hinterlicht. Nur in umgekehrter Weise dieses Mal. Der ältere Herr schaute sie nachdenklich an. Huschte da nicht ein Schmunzeln über das wettergegerbte Gesicht? Sie wollte sich vergewissern und schaute ihn nachdenklich mit ernsten Augen an. Da schlug er vor, das Ganze doch wie bereits schon einmal erfolgreich durchgeführt, zu erledigen: die Rechnung würden sie wieder selber berappen und den Aufpreis teilen. Sofort war sie einverstanden, denn wer der Schuldige sein könnte, war wieder unklar und sich mit Polizei und Versicherungen herumschlagen wollten beide nicht. Die Sache war geklärt und so würden sie es machen.

Am Abend rief ihre Freundin an und versuchte sie zu trösten, als sie von diesem zweiten Missgeschick hörte. Ein diskretes Lachen versuchte sie zurückzuhalten. Daraufhin wurde sie für zwei Tage in ihre Ferienwohnung in der Lenzerheide eingeladen. Zum Trost und auch sonst, weil es so schönes Wetter war. «Etwas Abwechslung tut Dir gut. Komm rauf und geniesse einen herrlichen Skitag. Wir haben Platz für Dich!». Das war wirklich ein verlockendes Angebot, dem niemand wiederstehen konnte. Zweimal innerhalb zweier Wochen dasselbe Missgeschick zu erleben und erst noch mit demselben Herrn, das war zu viel für ihr Denkvermögen. Ja, sie musste eine Pause haben und zwar jetzt. Am Montag hatte sie immer frei. So war das in ihrem Beruf und deshalb kam ihr diese Einladung sehr gelegen. Etwas frische Luft, herrliche Wintersonne, bei Freunden sein zu dürfen und skizufahren. Gab es etwas Schöneres? Nicht im Winter. Und schon packte sie den Rucksack und holte ihre Skier aus dem Keller. Alles war bereit für den Ausflug am Sonntag für zwei Tage Skifahren und geniessen. Sie würde, wie immer alleine fahren, denn ihre Freundin und ihr Mann waren Langläufer und richtig «angefressen». Das war ihr einerlei. Zwei Tage auf der Piste und herrliches Wetter dazu, würden wie eine Woche Ferien sein.

Nach einer etwas unruhigen Nacht, in der sie wiederholt aufgewacht und immer wieder das eigenartige Geräusch des Zusammenstossens gehört hatte, stand sie früh auf. Wider Erwarten fühlte sie sich frei und voller Vorfreude. Der Schreck von gestern schien verflogen zu sein.

Im Zug dachte sie noch einmal kurz an das Erlebte. Je näher sie den Bergen kam, die mit ihren weiss gezuckerten Gipfeln vor dem tiefblauen Winterhimmel einfach grossartig aussahen, verflog ihr Kummer. Es war doch nichts weiter geschehen, sagte sie sich noch einmal, nur Sachschaden. Eigenartig war allerdings, dass es am selben Ort mit demselben Mann geschehen war. Das erste Mal war er aus der Parklücke gefahren, das zweite Mal war sie aus dem Parkplatz geschert. Jetzt war dies nicht mehr wichtig. Sie sass im Postauto und bald stand sie am Lift Tgantieni. Vom Piz Scalottas aus wollte sie die ganze Bergkette abfahren, um dann auf die andere Seite und auf das Rothorn zu gelangen. Dort wollte sie die Abendsonne geniessen und dann gemächlich ins Tal zu ihren Freunden gleiten. 

Die Sonne hatte die Pisten eisig werden lassen. Hier und da schimmerte das Eis bläulich zwischen den Schneewaden. Wiederholt spürte sie eine leichte Unsicherheit beim Abbremsen. Sie würde etwas weniger rassig fahren, überlegte sie. Ihre Skier hielten nicht sicher und sie kam wiederholt ins Rutschen. Vielleicht sollte sie die Kanten…, da geriet sie schon wieder in unkontrollierbares Gleiten auf einer dieser glitschigen Stellen. Die Skier reagierten nicht auf ihren Bremseinsatz: sie schlitterte unaufhörlich weiter. «Achtung!» rief sie verzweifelt, «Puup-Puup!» Hilflos rutschte sie auf den untenstehenden Skifahrer zu. Plumps, beide lagen im Schnee. Zum Glück war der Zusammenstoss sanft, aber da sassen sie hinter einander, die Skier ineinander verwickelt. «Hoppla! Das war aber nicht gut!» rief der Skifahrer und putzte sich mit dem Ärmel über die Skibrille. Dann klopfte er sich kurz die Beine ab und stieg aus den Brettern. Vorsichtig ging er auf sie zu. «Haben Sie sich verletzt? Haben Sie sich weh getan?» fragte er besorgt und half ihr aufzustehen. Sanft klopfte er auch ihr den Rücken vom wenigen Schnee frei. «Nein, alles in bester Ordnung, alle Knochen ganz!» murmelte sie beschämt: «Ich konnte einfach nicht stoppen, es war Glatteis. Haben Sie mich nicht gehört?» Da lachte er: «Aber sicher habe ich ihr Hupen gehört. Doch, was half es mir?». Er erklärte ihr, er sei an derselben Stelle ebenfalls gestürzt und sei am Aufstehen gewesen, als sie angeschlittert gekommen sei. Leider konnte er nicht schnell genug auf die Seite klettern, das sei völlig unmöglich gewesen.

Er blieb noch eine Weile stehen, um sich zu versichern, dass auch alles in Ordnung sei und sie sich gut fühle, dann fuhr er los. «Fahren Sie hinter mir her!» schlug er vor, «ich kenne die heiklen Stellen!» Das gefiel ihr. Auch sein Tempo empfand sie für genau richtig. Hintereinander kurvten sie zum nächsten Lift. Da entschieden beide, gemeinsam hochzufahren. Wieder ging es hintereinander die Piste runter, schwungvoll und vergnügt. Auch den nächsten Lift nahmen sie zusammen, genossen die herrliche Abfahrt, hielten ab und zu an, um die Landschaft zu geniessen und fuhren auf das Restaurant zu. Zur Mittagszeit war klar, dass sie gemeinsam essen würden. Danach wollten sie wieder zusammen weiterfahren bis zum Rothorn. Eine abgemachte Sache. Das gefiel ihr sehr.

Im Restaurant setzte sie die Skibrille auf den Helm, den sie endlich ausziehen konnte. Sie schüttelte ihr Haar und wollte sich ihm gegenübersetzen. Da stockte ihr der Atem. Auch er war aus dem Helm geschlüpft – graues Haar, wettergegerbtes Gesicht. «Nein!» entfuhr es ihr, «das darf nicht wahr sein. Sie sind es?» «Oh,» schmunzelte er, «ich habe doch gedacht, diese Stimme und dieses Lachen kenne ich von irgendwo her. Ja, ich bin es und Sie sind es auch!» Beide lachten aus vollem Herzen. Daraufhin nahm er ihre Hand und sagte: «Dreimal ist genug!»

Ja, so war es. Und wie es weiter ging? Der Leser wird es vermuten.

Eines sei an dieser Stelle noch verraten: an den Samstag-Vormittagen kann man ein älteres Paar Hand in Hand die Florastrasse entlang spazieren sehen, beide mittlerweile weisshaarig geworden. Und wenn Sie frohes Lachen hören und einen schmunzelnden Mann sehen, dann wissen Sie, das sind diese beiden, für die dreimal genug war, um sich zu finden.

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Wo die Türe offen steht

«Mama, ich will wissen, was da drauf steht!» Im Vorbeigehen wies NIna auf die Granittafel. Diese thronte über dem schweren schmiedeisernen Tor in der Mauer, die den alten Palazzo umschloss und in deren Schatten Nina und ihre Mutter an diesem heissen Sommertag im Südtal auf dem Weg ins Dorf entlang gingen. In kantigen Buchstaben waren Wörter in den Stein gemeisselt. Nina löste sich von der Hand ihrer Mutter, klapperte mit ihren roten Zoccoli zum Tor hin und stellte sich unter die Tafel. Nina würde erst im Herbst in die Schule kommen, aber lesen konnte sie schon. Sie liebte es, mit dem Zeigefinger den Wörtern entlangzufahren und sie dabei laut vorzulesen. Auf diese Weise entführten sie die Buchstaben in ein Reich voller Träume und Fantasie.

«I-A-N-U-A P-A-T-E-T C-O-R M-A-G-I-S» Nina stand da in ihrem roten ärmellosen Häkelkleidchen, die weissen Kniestrümpfe waren hinuntergerutscht. Nina zog sie hoch, warf die langen blonden Locken nach hinten und rückte diese mit dem Haarreif wieder zurecht. Dann zeichnete sie mit dem Finger die Tafelinschrift in der Luft nach und las sie laut vor, Buchstaben für Buchstaben. «Ianua patet cor magis.» Wie immer, wenn Nina las, formten sich die Buchstaben zu Bildern und Klängen und erwachten zum Leben:  Sie hüpften und tanzten, allein, zu zweit und alle miteinander, auf und ab, hin und her und übermütig im Kreis herum, bis sie erschöpft hinunterpurzelten und davonkugelten.

«Was ist das für eine Sprache?» murmelte Nina fragend, mehr zu sich selbst, denn eine Antwort erwartete sie nicht.

«Vermutlich Lateinisch,» sagte die Mutter zu Ninas Überraschung.

«Und was heisst es?»

«Was du immer alles wissen willst, komm, wir müssen weiter, gleich macht der Markt zu.» Die Mutter drängte, was sie meistens tat, wenn sie Ninas Fragen überdrüssig war.

 «Wer weiss es dann?» Nina liess nicht locker.

«Kannst ja mal den Onkel Beppo fragen, der weiss doch so ziemlich alles.»

Onkel Beppo. Nina seufzte. Onkel Beppo war immer so laut, und sie verstand nie, was er sagte. Den würde sie sicher nicht fragen. «Ianua patet, cor magis.» Nina wusste, sie würde diese Worte nie vergessen, sie waren wie eine Melodie, die sie in ihren Gedanken immer und immer wieder abspielte.

«Ich schau mal im Garten, vielleicht ist da jemand, der es weiss.» Nina drückte mit beiden Händen gegen das schwere Eisentor. Es war verschlossen.

«Was fällt dir ein Nina, da kannst du nicht rein, es wohnen Leute im Palazzo. Komm, trödle nicht herum, lass uns gehen, es ist spät.»

Für heute gab sich Nina geschlagen in ihrem Wissensdurst. Widerwillig wandte sie sich von der Palazzotür ab und trottete ihrer Mutter hinterher, auf der mit Kopfstein gepflasterten

Strasse bis zum Markt in der Dorfmitte und zurück nach Hause. Sie hörte noch, wie die

Mutter ihr zurief: «Hast du die Türe zugemacht?» Dann verschwand sie in ihr Zimmer, legte sich aufs Bett, schloss die Augen und träumte von Buchstaben, die in einem Schlossgarten unter alten Weiden tanzten und Kunststücke vollführten. Überall blühten Rosen. Mittendrin plätscherte ein Springbrunnen, er trällerte ein fröhliches Lied.

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«IANUA» war in grossen Lettern auf dem grünen Buchdeckel zu lesen, und gleich darunter «ars latina». Heute war Ninas erste Lateinstunde. Sie sass in der vordersten Reihe und schaute auf das Buch, das da vor ihr auf der Schulbank lag. Mit einem Schlag rief es ihr eine Begegnung in Erinnerung, die mehr als sechs Jahre zurücklag. «Dieses Buch ist die Tür zur Kunst der lateinischen Sprache,» verkündete der Lehrer feierlich. «IANUA – die Tür!» In ihrem Geiste sah Nina das Schmiedeisentor, die Granittafel und die darin eingemeisselten Buchstaben. Ianua – die Tür zur Kunst der lateinischen Sprache. Diese zu erlernen, so deutete Nina die Worte des Lehrers, war sicherlich nicht leicht, es dürfte Jahre dauern. «Incipimus!» hörte sie den Lateinlehrer sagen. «Lasst uns anfangen!» «Je eher, desto besser,» dachte Nina und versprach sich selber, alles zu geben, um das Geheimnis der Tafel zu lüften.

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«Dann also bis Sonntag, Mama.» Nina legte den Telefonhörer auf. Sommerferien. Die ersten Wochen war Nina mit Korrekturen von Schülerarbeiten und der Vorbereitung fürs neue Schuljahr beschäftigt gewesen. Jetzt wollte sie ein paar Tage freinehmen, ins Südtal fahren und ihre Mutter besuchen. Sie selbst war vor Jahren von dort weggezogen und wohnte nun in der Stadt, wo sie an einer Töchterschule alte Sprachen unterrichtete.

«Ianua patet cor magis». Jedes Mal, wenn sie ins Tal zurückkam, zog es sie hierher. Nina stand unter der Granittafel. Nicht viel erinnerte an das kleine Mädchen von damals. Heute trug sie ein bunt geblümtes Trägerkleid, ihre Füsse steckten in leichten Sommersandalen, und die Haare waren zum Pferdeschwanz zusammengebunden. NIna dachte daran, wie sie als Kind mit dem Finger die Buchstaben in der Luft nachzeichnete. Laut las sie die Zeile. Sie hatte ihr Versprechen eingelöst. Das Geheimnis war ergründet.

«I-A-N-U-A P-A-T-E-T C-O-R M-A-G-I-S.»

«Das ist aber selten heutzutage!» Nina vernahm eine ihr unbekannte Stimme. «Wer spricht denn da die Sprache der alten Römer?» Das schmiedeiserne Tor öffnete sich und ein älterer Herr in beiger Cordhose, weissem Hemd und dunkelbraunen Oxford-Schuhen trat heraus. Eine elegante Erscheinung. Seine grauen, gewellten Haare waren nach hinten gekämmt. Mit wachen Augen sah er Nina freundlich an und lächelte charmant.

«Schon als Kind fesselten mich die Worte auf dieser Tafel,» beantwortete Nina seine Frage, «ich wollte Latein lernen, damit ich sie verstehe. Wo die Türe offen steht, findest du ein grosses Herz  – so heissen die Zisterzienser Fremde willkommen.»

«Das taten auch meine Vorfahren, und in unserer Familie gilt das Motto bis heute.»

«Sind Sie der Conte de Clerici?»

«Einer von ihnen, und der älteste von allen,» lachte der Conte. «Und Sie sind von hier?»

«Ich bin da drüben, auf der anderen Seite des Flusses aufgewachsen.» Nina zeigte in Richtung der Rundbogenbrücke, über die sie zum Palazzo gekommen war. «Jetzt bin ich nur noch gelegentlich hier, um meine Mutter zu besuchen.

«Sie kennen also den Palazzo?»

«Nur von aussen,»

«Dann wird’s aber höchste Zeit!»

Der Conte hielt Nina das Tor auf und wies ihr mit einladender Geste den Weg in den Schlossgarten. Ein Meer von Rosen verströmte einen betörenden Duft, der Schlossbrunnen plätscherte in ihrer Mitte und sang sein Lied. Jahrhundertealte Weiden spendeten Schatten und säumten die Allee, an deren Ende über einer steinernen Treppe der Eingang zum Palazzo weit offen war.

 «Von diesem Garten habe ich als Kind geträumt», sagte Nina, «und genau so sah er in meinen Träumen auch aus.»

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«Mama, ich bin eingeladen, morgen, im Palazzo!»

«Komm, erzähl. Aber setz dich erst einmal hin, du bist ja völlig ausser Atem.» Die Mutter rückte Nina einen Stuhl zurecht und schenkte ihr ein Glas Wasser ein.

«Ich war beim Palazzo, du weisst doch, die Tafel mit der Inschrift. Auf einmal war da der Conte, und wir kamen ins Gespräch.

«Aber die Conti wohnen doch schon lange nicht mehr im Tal.»

«Der Conte und die Contessa sind zu Besuch hier, morgen gibt es ein grosses Fest im Palazzo. All ihre Freunde sind da, Dichter, Künstler, Wissenschaftler – und ich!» Nina strahlte vor Freude.

«Und wie kommst du zu dieser Einladung?»

«Der Conte führte mich durch den Schlossgarten. Wir unterhielten uns über Sprache, Geschichte und Literatur und über Gott und die Welt, und dann fragte er mich, ob ich morgen Zeit und Lust hätte, mit ihm, der Contessa und ihren Freunden zu feiern.»

Es sprudelte nur so aus Nina heraus. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit dem Conte, von den Weiden, den Rosen und dem Springbrunnen, von der einladenden Steintreppe und der offenen Palazzotür. Nina redete und redete, und die Mutter hörte ihr aufmerksam zu.

«Oje.» Nina schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. «Ich habe vergessen, die Tür zuzumachen.»

«Schon gut, Nina», erwiderte die Mutter, «lassen wir sie doch einfach offen.»

*********

Die Fische

An einem heissen Samstag mit glimmendem Himmel traf Christa mit der S-Bahn in Küsnacht ein. Kurz nach ihrer Ankunft merkte man es. Zuerst dachten wir, wir seien an einer Fischhandlung vorbeigegangen oder hätten etwelche Gerüche des Sees geschnuppert. Wir suchten die Strassen um den Bahnhof ab, fanden nichts, gingen weiter vom See weg, aber der Geruch begleitete uns überallhin, auch in meine Wohnung an der Schiedhaldenstrasse, selbst wenn wir die Fenster schlossen. Wieder auf der Strasse sahen wir dann die Leute hochschauen und Luft einsaugen. Und es bestätigte sich: Alle rochen dasselbe. Christas Gesicht wirkte gespannt, als erwarte sie, über einen tiefen Brunnen geneigt, den Aufprall eines Steins. Es war der kauzige Nachbar, der uns die Neuigkeit berichtete: «Das Ufer ist voll toter Fische. Polizei, Politiker, alle stehen rum und werweissen. Niemand kann spazieren, niemand baden, niemand segeln. Heiliger Bimbam!»

Christa und ich machten uns auf zum Seeufer. Schon in der Unterführung vom Bahnhof zum Hotel Sonne stank es grauenhaft. Dann sahen wir es. Der Nachbar hatte diesmal nicht übertrieben. Das Ufer war nicht wieder zu erkennen. Unmengen toter Fische lagen herum. Obwohl die Schiffsstation Küsnacht noch da war, nahmen die Augen überall nur haufenweise Fische wahr, silbern beschuppte, pfriemenförmige. Der See war grau, die Sonnenschirme weg, Segel- und Ruderboote verschwunden, Yachten unsichtbar. Die Sonne brannte und spiegelte sich in den Schuppen der Fische: längliche, platte, gestreifte, mit geöffneten Mäulern, aufgerissenen Kiemen. Die wie mit Gläsern überdeckten Fischaugen! Fische türmten sich übereinander, Fische lagen mit dem Bauch nach oben, Fische teils in der Erde, teils im Uferkies vergraben: alle tot.

Christa und ich sahen, wie Schaulustige mit ihren Handys fotografierten. Auch ein Team eines Lokalfernsehens war mittlerweile eingetroffen. Gestikulierend gab die Teamleiterin Anweisungen. Die Kamerafrau schulterte ihr Gerät und richtete die Optik auf einzelne Neugierige, die Fische aufhoben, um sie zu untersuchen. Wind kam auf.

«Zürich kann die Sommer-Festspiele vergessen und die Ruder-Regatta sowieso», sagte Christa. Sie drängte sich an mich, und wir umarmten uns.

Immer noch warfen die Wellen tote Fische ans Ufer. Scheinbar unerschöpflich spülte der See Fischleiber vom Grund herauf.

«Ob sich jemand», fragte Christa, «mit diesem Fischsterben einen schlechten Scherz erlaubt hat?» Sie schaute um sich.

«Das macht die horrende Hitze, das Klima ist total durcheinander», mutmasste lauthals ein junger Mann, der neben uns stand.

«Oh nein, so einfach ist das nicht! Das ist ein Fluch!», schrie eine Frau. «Das ist die Rache der Flüchtlinge, die wir im Meer haben ersaufen lassen.»

Eine Gruppe junger Naturisten wurde von der Angst gepackt: Die Sonne habe die Menschen verraten und vernichte nun die Erde.

So stellten die Leute von Küsnacht ihre Vermutungen an. Die meisten aber sagten nichts. Einige nahmen ihre Sommerhüte ab, etliche bekreuzigten sich, und ein Kristallkugelgucker wollte alles auf den Tag genau vorausgesagt haben.  

Bei jedem Windstoss stank es so, dass sich alle gleichzeitig die Nase zuhielten. Nicht einmal streunende Hunde und Katzen knabberten an den toten Fischen. Christa presste ihr Gesicht gegen meinen Arm. Bei diesem Gestank fragten wir uns, ob nicht das eigene Gehirn am Verfaulen sei. Und trotzdem verliess niemand das Ufer.

Tags darauf titelte der lokale Gratisanzeiger: «90 Tonnen tote Tiere angeschwemmt!» Im Netz und im Lokalfernsehen erklärte eine Expertin der Wasserversorgung, wie aufgrund der Hitze die Temperatur des Zürich-Sees angestiegen sei. Dadurch vermehre sich eine bestimmte Algenart signifikant, sodass der Sauerstoffgehalt des Seewassers unter die kritische Grenze sinke und die Fische erstickten. Naturschützer widersprachen dieser Ansicht vehement. Für sie lag die Ursache des Fischsterbens beim Abwasser des Gewerbes und der Industrie. In Küsnacht befanden sich auch die Zivilschützer in Aufregung, weil Gerüchte über biologische Kriegsführung durch Fanatiker kursierten.

Schaufelbagger begannen, die Berge von Fischkadavern zum Abtransport auf Lastwagen zu laden. Mehrere Tage lang fuhren die Laster mit Fischen beladen zu Sonderdeponien, wie es hiess. Nachher lagen hier und dort immer noch platt getretene und von Fliegen umschwirrte Fische herum, deren Innereien auf den Wegen klebten. Alle, die versehentlich darauf traten, sprangen erschreckt zur Seite, so als brächten sie Unglück. Zwar wurden jetzt kaum mehr tote Fische angeschwemmt, und der See sah wieder aus wie vorher, aber trotzdem ging niemand schwimmen. Niemand fuhr mit Ruderboot oder Yacht auf den See hinaus. Wenngleich die Behörden nach Wasseranalysen das Baden für unbedenklich erklärt hatten, blieb der See ohne Leben, die Kursschiffe ohne Passagiere. Ungeachtet der Hitze wirkte Küsnacht auf einmal herbstlich. Die Caféterrassen waren verwaist. Nur vereinzelte Figuren hockten in den Gastgärten im Schatten. Wie leer alles war. Es war Ende Mai. «Gespenstisch!», sagte Christa kurz vor ihrer Abreise.

Noch immer trägt der Wind den Gestank toter Fische mit sich. Der Verwesungsgeruch scheint tief in den Uferboden eingedrungen zu sein. Wie unfreundlich die Kioskverkäuferin ist! Wie schwer die Häuser! Wie leer der Himmel! Zwei, drei Kinder springen am Ufer herum und suchen nach Hölzchen und Steinen. Ansonsten sind die Wege in Ufernähe menschenleer. In Tümpeln sammeln sich Würmer und kaltleibiges Kreuchgetier.

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Ein Freund fürs Leben
Boston ist eine faszinierende Stadt. Ich liebte es, darin umher zu schlendern. Eine gewisse Zeit
lang hatte ich jeden zweiten Sommer die Gelegenheit dazu. Dies hing zusammen mit meiner
Lehrtätigkeit und Forschung als Naturwissenschaftler. Zuerst Vorlesungen an einer
fachspezifischen Sommerschule in Waterloo, Ontario und anschliessend Präsentation unserer
Forschungsresultate an der Gordon Research Conference in Wolfeboro NH. Zwischen den
beiden Arbeitswochen lag jeweils etwas mehr als ein voller Tag Aufenthalt in Boston.
Der Wissenschaftszirkus ist ein Haifischbecken, in dem die Haie hauptsächlich nach den
grössten Brocken an Ruhm, Ehre und Fördermittel Ausschau halten und diese mit nicht gerade
fairen Mitteln an sich zu reissen versuchen. Ob ihre Forschung für die Menschheit nützlich,
schädlich, oder nur von pekuniärem Interesse für Wenige ist, spielt dabei eine sekundäre Rolle.
Die anderen Fische müssen sich geeignete Überlebensstrategien ausdenken um zu bestehen.
Ich hatte das Glück, in einer sicheren Bucht, von der Haie ausgesperrt waren, völlig frei von
Wettbewerb als Wissenschaftler eigenständig zu werden. Entsprechend bunt, ja fast exotisch
war die Zusammensetzung der Gruppenmitglieder. Das Spektrum reichte von extrem links bis
extrem rechts, von tief gläubig bis atheistisch. Da jeder seine eigene Forschungsaufgabe hatte
– ohne Überschneidungen mit den anderen –, war es mehr als natürlich, dass man sich
gegenseitig mit Rat und Tat beistand und sich dabei menschlich zu schätzen lernte.
Umso intensiver waren die Diskussionen über Gott und die Welt in den gemeinsamen
Kaffeepausen. Wir hatten uns eine Kaffee-Ecke in einem der Labors eingerichtet, wo wir in
einem Glaskolben auf dem Bunsenbrenner wesentlich besseren Kaffee brauten, als die Brühe
im Angebot des Volksdienst-Kiosks vor dem Hörsaal. Es war eine Schule fürs Leben. Wir
lernten andere Meinungen zu kennen, zu akzeptieren oder abzulehnen, ohne dass unsere
Freundschaft darunter litt. Fachwissenschaftliche Diskussionen während der Kaffee-Pausen
oder während des Mittagessens waren verpönt. Hingegen fand ein reger Austausch über
Literatur und Theater (Frisch, Dürrenmatt, u.a.m.), sowie über neue Erkenntnisse aus anderen
Wissensgebieten statt. Dabei war zum Beispiel Dürrenmatt's Aussage: »Vaterland nennt sich
der Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen!«
willkommenes Wasser auf die Mühlen der Militärgegner und brachte die Befürworter zum
Reflektieren. Einerseits wollte keiner sein Leben für die Banken und die Versicherungen opfern,
die nach Ansicht der meisten einen zu grossen Einfluss auf die Entscheidungen des Staates
ausübten. Andrerseits war Schillers böser Nachbar immer noch präsent. Der Ungarnaufstand
1956 und später die Niederwalzung des Prager Frühlings 1968 waren allen in die Knochen
gefahren. Die Geister schieden sich hingegen am Vietnamkrieg. Was uns allen klar wurde, ist,
dass wir keinem Dogma trauen konnten von welcher Art auch immer, wissenschaftlich,
politisch, religiös, philosophisch, medizinisch.
Ich hatte es mir angewöhnt, wissenschaftliche Arbeit und das, was die Leute als Musse
verpönen, strickt zu trennen und stiess damit bei einigen meiner amerikanischen Kollegen auf
Unverständnis, zum Beispiel, wenn ich mich weigerte, beim Essen oder abends bei einem Bier
noch über meine oder ihre Arbeit zu sprechen. Mich interessierten viel mehr die Menschen
dahinter, ihr Leben und ihre politischen und philosophischen Ansichten. Leider war der Kreis
derjenigen, die sich für etwas anderes als ihre Wissenschaft und ihre Karriere interessierten,
relativ klein. So vermied ich es tunlichst in Boston auf solche Leute zu treffen. Dafür war mir
meine Freizeit zu wertvoll. Viel lieber bummelte ich allein in meinem eigenen Tempo durch die
Stadt, befasste mich mit ihrer Geschichte (Tea-Party, Sezession vom British Empire, u.s.w.),
sah mir die Sehenswürdigkeiten an, schmökerte in Buchläden oder sass gedankenversunken
auf einer Parkbank am Charles River, gegenüber vom berühmten MIT, zu dessen Besuch ich
wenig Lust verspürte. In gewissen Quartieren wähnte ich mich in London, so ähnlich sahen die
Häuser mit ihren kleinen Vorgärten aus. Der Name Neu-England ist dort durchaus angebracht.
Natürlich kam auch das Kulinarische nicht zu kurz: Hummer am »Pier Seven« oder ein schönes
Steak (allerdings nur sechs Unzen) mit baked Potatoes. Ich konnte mir schwer vorstellen, wie
jemand zwölf Unzen Fleisch auf einmal verschlingen konnte.
So gerieten meine Aufenthalte in Boston fast zu einem Ritual: Ankunft im Logan Airport, Taxi
zum Hotel, dann raus in die Stadt, spät nachts zurück ins Hotel. Am Sonntag morgen waren
eher die verschiedenen Parks dran und die Museen, dann wieder raus zum Logan Airport wo
um fünf Uhr die Konferenz-Busse zur Brewster Academy in Wolfeboro abfuhren. Doch im
Sommer 1993 war alles anders. Eine Woche vor meinem Abflug nach Toronto erhielt ich einen
Buchtipp: »Bist Du Dir bewusst, dass Du niemanden persönlich lieben kannst. Du liebst nur
dein voreingenommenes Bild, das Du Dir von dieser Person gemacht hast.« »Was soll dieser
Unsinn?« »Lies es selbst nach. Es ist alles ganz logisch. Kauf Dir in Boston das Buch
»Awareness« von Anthony de Mello. Es ist als Paperback erst kürzlich erschienen und dürfte
nicht ganz einfach zu finden sein.«
Zum Glück kannte ich Boston inzwischen gut genug. Ein Buchladen mit religiöser und spiritueller
Literatur befand sich ganz in der Nähe des Boston Gouvernment Centers. Ich war dort
schon öfter vorbeigekommen und dort wurde ich auch auf Anhieb fündig. Ich betrachtete das
Buch mit gemischten Gefühlen. Der Autor war ein Jesuit, ein Angehöriger des Ordens der
Gegenreformation. Diese waren für ihre gefährliche Intelligenz bekannt und bekamen – zwecks
Erhaltung des religiösen Friedens in der Schweiz – einen Ausnahmeartikel in unserer Bundes-
Verfassung, der erst 1973 aufgehoben worden war. Andrerseits kam die Empfehlung von
einem überzeugten Atheisten, dem ich genügend Resistenz gegen Gehirnwäsche zutraute.
Vielleicht muss ich noch erwähnen, dass ich schon ziemlich früh vieles nicht mehr akzeptierte,
was die katholischen Priester uns Kindern und Jugendlichen als alleinige Wahrheit zu
indoktrinieren versuchten. Als nach dem zweiten Vatikanischen Konzil jede Hoffnung auf eine
wirkliche Evolution dieser Kirche erlosch, war die Abwendung von dieser versteinerten
Organisation nur eine logische Folge. Der Frosch, der tief unten im Brunnen sitzt, beurteilt das
Ausmass des Himmels nach dem Brunnenrand! Die Schachtwände dieses Brunnens sind aus
Dogmen und unmenschlichen Gesetzen gemauert. Dabei waren wir ursprünglich eingeladen,
befreit oben auf dem Brunnenrand zu sitzen.
Ich begab mich also in den Park am Charles River, setzte mich auf eine Bank und begann zu
lesen. Das Vorwort war von J. Francis Stroud verfasst, einem Freund und Mitbruder von
Anthony de Mello. Dieser war bereits 1987 verstorben, drei Jahre vor dem Erscheinen der
Erstausgabe. Stroud war also nicht nur Editor des Buches, sondern er hat eine Synthese aus
Niederschriften von Vorträgen und Seminaren de Mellos geschaffen, die auch seine eigene
Handschrift trägt. Den Geist seiner gesprochenen Worte einzufangen, und sein spontanes
Eingehen auf die Reaktionen seiner Zuhörer lebendig in die gedruckte Version zu übertragen,
war meine Aufgabe nach seinem Tod. Ganz besonders berührt war ich durch den letzten
Absatz des Vorworts: Erfreue dich an diesem Buch. Lass die Worte in deine Seele eintreten,
und höre ihnen mit deinem Herzen zu. Nimm seine Geschichten auf und du wirst deine eigenen
Geschichten sehen. Ich lasse dich jetzt allein mit Tony – dem spirituellen Lehrer – und du wirst
mit ihm einen Freund fürs Leben finden.
Zuerst habe ich mich am Wort spirituell gestossen. Als Vertreter einer sich objektiv wähnenden,
reduktionistischen Wissenschaft (Die Eigenschaften des Ganzen lassen sich aus den
Eigenschaften seiner Teile erklären) war mir alles suspekt, was irgendwie nach subjektiver
Esoterik roch. Aber meine Befürchtungen wurden schnell entkräftet. Schon im ersten Absatz ist
seine Definition zu lesen:
Spiritualität heisst Aufwachen. Die meisten Leute gehen schlafend durchs Leben, ohne sich
dessen je bewusst zu werden. Sie werden schlafend geboren, sie leben schlafend, sie ziehen
Kinder im Schlaf auf, sie sterben in ihrem Schlaf, ohne jemals aufzuwachen. Nie begreifen oder
erfahren sie dabei die vollkommene Lieblichkeit und Schönheit des Zustands, den wir
menschliche Existenz nennen. Wisst, dass alle Mystiker, egal welcher Ideologie, Theologie
oder Religion sie anhingen, ein einem Punkt absolut übereinstimmten: Nämlich, dass die Welt
in Ordnung ist. Alles ist wirklich in Ordnung. Obschon sich Alles in einem wüsten
Durcheinander befindet, ist es doch in Ordnung. Gewiss, ein seltsames Paradoxon, aber
fatalerweise gelangen die meisten Leute nie zu dieser Einsicht, weil sie sich in einem
schlafenden Zustand befinden. Sie leben einen Albtraum.
Und in diesem Zustand sind sie ständig bemüht, an allem herumzuflicken, was sich ihrer
Meinung nach nicht in Ordnung befindet, das heisst, ihrer Umgebung und falls möglich der Welt
ihre eigene Ordnung aufzuzwingen. Das führt natürlich zu Konflikten, weil die »bösen« anderen
dies auf ihre eigene, »verwerfliche« Art auch anstreben. Dass sie selbst und ihre Sicht auf die
Welt das eigentliche Problem sein könnten, kommt den wenigsten in den Sinn.
Mein Interesse als Querdenker war geweckt, denn paradox ist das, was die Legitimität des
Orthodoxen unterminiert. Durch unsere kulturelle Konditionierung sind wir mit verrückten Ideen
über das Leben, die Liebe, das Glück, über Beziehungen, Freude, Freiheit und Frieden, sowie
mit Rezepten zur Erreichung dieser Zustände vollgestopft worden. Dabei wurden Antworten auf
grundsätzlich nicht bestimmbare Fragen vorweggenommen und als Wahrheiten implantiert.
Tony meinte dazu: Wir alle sind verrückt, zertifizierbare Irrsinnige! Der einzige Grund, wieso wir
nicht in einer Institution eingesperrt sind, ist dass es so viele von uns gibt. Wir leben nach
verrückten Ideen über fast alles, die nicht unsere eigenen sind. Ich kam zur Einsicht, dass du,
wenn sich alle über die Antwort auf eine Lebensfrage einig sind, sicher sein kannst, dass diese
Antwort falsch ist.
Ich begann seine grobe entwaffnende Ehrlichkeit zu lieben, seine Direktheit, die seinem
indischen Naturell entsprang. Er entpuppte sich als profunder Kenner der östlichen und
westlichen Religionen und Philosophien und war neben seiner geistlichen Tätigkeit auch
Psychologe mit einer reichen praktischen Erfahrung als Psychotherapeut. Ich liebte seine
Geschichten und lachte über die Dummheit der Personen, die darin gezeichnet wurden. Doch
plötzlich merkte ich, dass ich dabei in einen Spiegel schaute und über meine eigene Dummheit
lachte. Dies war zunächst eine sehr schmerzhafte Erfahrung, doch bald wurde ich der grossen
Befreiung gewahr, mich selbst und meine Überzeugungen nicht mehr so wichtig zu nehmen. Es
ist sehr befreiend, der Massstab für rein gar nichts zu sein. Dies bedeutet aber auch dass, wir
uns nicht um unsere Bewertung nach den Massstäben anderer scheren müssen. Ich hatte mit
Tony einen wirklichen Freund fürs Leben gewonnen.
Mein Hotel lag in der Nähe des Reflection Pools, einem langgestreckten, rechteckigen Bassin
von ca. 200 m Länge. Am Sonntag nach dem Frühstück begab ich mich dorthin, setzte mich im
Schatten eines Baumes auf eine Mauer, lauschte dem Plätschern des nahen Springbrunnens
und setzte meine spät am Abend unterbrochene Lektüre fort, die oft durch Phasen der
Besinnung unterbrochen wurden. Der Reflection Pool begann seine Wirkung zu zeigen.
Wann immer du dich gut fühlst, wenn andere dir sagen, dass du O.K. bist, bereitest du dich
gleichzeitig darauf vor, dich schlecht zu fühlen, wenn sie dir sagen, dass du nicht O.K. bist. So
lange du nur lebst, um die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen, pass lieber auf wie du dich
kleidest, wie du dich kämmst und ob deine Schuhe poliert sind – kurz, erfülle jede ihrer
verdammten Erwartungen. Nennst du dieses Verhalten menschlich?
Was ist das, was du als Selbst bezeichnest? Du glaubst, du verstehst wie die Welt funktioniert
und kennst die Antwort darauf nicht? Du glaubst, du verstehst Astronomie, schwarze Löcher,
Quasare, kennst dich in Computerwissenschaften aus und weisst nicht wer du bist? Oh Gott, du
bist immer noch schlafend; ein schlafender Wissenschaftler!
Am Abend traf ich in der Brewster Academy wie gewohnt auf die anderen »schlafenden«
Wissenschaftler. Ich war begierig darauf, meine neuen Erkenntnisse an jemandem zu testen,
ohne meine Quelle zu verraten. Mein Opfer war ein befreundeter israelischer Kollege, der in
Berkely lehrte und forschte. Du bist ein verdammt gefährlicher Mensch geworden, meinte er.
Dies war auch die Meinung des obersten Inquisitors: 1998 setzte Kardinal Joseph Ratzinger,
der spätere Papst Benedikt XVI, das Buch »Awareness« auf den Index.

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High Noon mit Madoadoa

Nazir reagiert besonnen wie immer. Anstatt das Bremspedal spontan durchzudrücken und uns ans Dach knallen zu lassen, das zwar hochgestellt, aber dennoch da ist, pumpt er staccato-artig mit dem Fuss auf die Bremse. Pluff-pluff-pluff macht es hohl, und leise zischt unser Fahrer rythmisch passend durch die Zähne: „Look, look, look!“ In seiner Stimme liegt, trotz Flüsterton hörbar, jenes spezielle Timbre, das sich immer dann bemerkbar macht, wenn Nazir emotional wird. Er wird es selten, wie wir seit bald dreissig Jahren wissen, so lange begleitet er uns schon durch unser geliebtes Tansania, seine Heimat, die er uns Jahr für Jahr immer wieder von neuem und von neuen Seiten zeigt – auch abseits der Touristenströme. Und weil wir wissen, dass Nazir ein richtiger Tierflüsterer ist, der wie ein Jagdhund nur dann anschlägt, wenn er wirklich Grund dazu hat, folgen wir mit den Augen begierig seiner ausgestreckten Hand rechts hinüber, über die braune Brache, die weiter vorne in einen Matope, einen matschigen Sumpf, mündet und weiterführt zum Saum einer Wiese, die halbmannshoch mit strohgelbem Gras bestanden ist.

Und da ist sie. An diesem Wiesensaum drückt sich, durch das Fernglas gut erkennbar, ein gefleckter Körper auf den Boden, macht sich klein und fast unsichtbar: eine Leopardin, die eben aus dem Gräsermeer herausgetreten sein muss. Sicher hat sie uns bemerkt, aber wir sind ihr keines Blickes würdig, ihre Augen sind geradeaus gerichtet auf das Ende des moorigen Matope, wo dieser in eine sattgrüne Kurzgraswiese übergeht. Und nun sehen wir auch, was sie sieht: Dort liegt, friedlich wiederkauend, ein Riedbock im Gras, ruht und verdaut die Gräser und Kräuter, die er früher am Tag gerupft hat. Noch hat der Bock die Gefahr nicht erkannt, der Wind muss wohl von der anderen Richtung kommen, und seine Lauscher haben – wiewohl in steter Bewegung – bislang kein verräterisches Geräusch wahrgenommen.

Wie auch? Die Leopardin – auf Suaheli, der Lingua franca Ostafrikas, „Chui“ genannt oder, wie alle gefleckten Katzen, „Madoadoa“, die Getupfte – duckt sich noch immer auf den Boden, alle Fasern ihres geschmeidigen Körpers sind angespannt. Auch wenn sie sich nicht bewegt, beobachtet sie unablässig den Bock und lässt ihn auch nicht den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Jetzt steht sie langsam auf bis in halbhohe Position und fängt an zu schleichen, geschickt jede noch so kleine Deckung durch einen Stein, einen Dreckklumpen oder ein Grasbüschel ausnutzend. Blickt der Bock zu ihr herüber, wobei seine Nüstern bebend die Luft prüfen, erstarrt die Katze zur Salzsäule. Schaut er in eine andere Richtung, wechselt sie sofort in den Schleichmodus und macht, immer noch in halbhoher Kauerstellung, ein paar schnelle Schritte – wenige nur, ehe sie gleich wieder erstarrt.  Der Riedbock hat den Kopf gewendet. Antilopen haben dank ihrer seitlichen Augenstellung ein viel grösseres Rundherum-Sichtfeld als wir, und die Leopardin scheint dies instinktiv zu wissen – vermutlich ist der stattliche Bursche hier nicht ihr erster Riedbock, und vielleicht weiss sie auch einfach aus Erfahrung, wie vorsichtig ihr Beutetier und wie brüchig ihr Jagdglück ist.

Weiter geht es im bewährten Schleich-Duck-Rhythmus. Noch immer stehen wir mit unserem Buschauto an der gleichen Stelle auf der rauen Piste, der wir, aus dem Galeriewald kommend, um eine leichte Biegung gefolgt sind – so knapp die Wendung war, sie hat uns ebenso unverhofft wie direkt auf die Bühne des dramatischen Geschehens geführt. Für uns alle, auch für den erfahrenen Naturburschen und Tierkenner Nazir, ist dies ein seltener Augenblick auf Safari: Einen Leoparden mitten am Tag beim Jagen zu beobachten – es geht inzwischen auf zwölf Uhr mittags zu – ist etwa so selten wie eine Abfahrt durch Pulverschnee im Hochsommer auf einer Südseeinsel! Leoparden sind Nachtjäger, die in der Dämmerung die Bäume verlassen, auf denen sie ruhend den Tag verbracht haben, um im Dunkel von Steppe und Savanne Beute aufzuspüren. Dies hier – eine Leopardin, die zur heissen Mittagszeit bei voller Sicht einen Riedbock anpirscht – ist nicht nur für uns, sondern auch für den erfahrenen Ranger-Guide ein seltenes Geschenk, das einem nicht oft in den Schoss fällt. High Noon mit Madoadoa!

Von wegen „in den Schoss fällt“! Noch immer schleicht die Leopardin über das offene  Gelände. Fast zwei Stunden hat sie jetzt schon gebraucht für hundert Meter – Ducken, Schleichen, Erstarren und immer wieder: Warten, Warten, Warten. Noch sind es etwa dreissig Meter bis zum liegenden Bock. Jetzt scheint die Leopardin sich zu „sammeln“ – zum ersten Mal wird mir bewusst, was dieses Wort wirklich bedeutet: die gefleckte Katze ruft sozusagen jeden Muskel einzeln ab, überprüft sorgfältig seinen Tonus, spannt ihn an,  „versammelt“ die Beine unter dem Leib wie ein Dressurpferd im Viereck, peitscht nervös mit der Schwanzspitze und streckt den Kopf nach vorne, Nase und Augen voran, so nah zur Beute, wie’s nur geht. Uns bleibt, vor lauter eigener Anspannung und ja eben: vor lauter „Versammeln“ unserer eigenen Muskeln und Nerven parallel zu jenen der Raubkatze, fast der Schnauf weg. Und dann – springt die Leopardin! Springt, nein: schnellt durch die Luft wie ein Pfeil von der Bogensehne – und landet mitten im Matope-Schlamm, wo sie sich wohlig räkelt und ausgiebig wälzt. Den Bock schaut sie nicht mehr an, offenbar hat sie aufgegeben, die Jagd abgebrochen – ganz kurz vor dem Ziel. Warum? Nur die Leopardin weiss es. Wir sind erstaunt und verblüfft – und vielleicht auch ein bisschen froh, dass es nicht zu blutig geworden ist. Der Riedbock türmt derweil in hohen Fluchten, als wäre der Teufel noch immer hinter ihm her. Er ist wohl ziemlich geschockt durch die plötzliche Erkenntnis, in welch‘ grosser Gefahr er schwebte, ohne es zu ahnen. Noch einmal mit dem Leben davongekommen! That’s Africa.

Die Leopardin aber geht, nachdem sie sich – ganz Katze – akribisch die Schlammresten aus dem Fell geputzt hat, an unserem Wagen vorbei und würdigt uns auch jetzt keines Blickes. So nah ist sie, dass wir ihre Tupfen zählen und sie mit der ausgestreckten Hand berühren könnten. Wir tun es besser nicht. Dann erklettert „Mama Chui“ eine Akazie und legt sich wie selbstverständlich auf einem horizontalen Ast zur Ruhe. Für die nächsten zwei Stunden mindestens – und ohne Mittagsmahl für heute. Auch das ist Afrika.

*****

Die Meisterin

Seit einer Woche beleben Sie das Fenster gegenüber meinem Schlafzimmer, wo zuvor morgens und abends nur ein Schatten vorbeihuschte. Das Wort „beleben“ trifft es eigentlich nicht, denn Sie sitzen, genau wie ich, statuengleich vor dem Laptop. Im Gegensatz zu meinem ist Ihr Rücken gestrafft. Zur vollen Stunde strecken Sie die Arme in die Höhe, stehen auf und gehen nach nebenan in die Küche, um mit einem Glas Wasser zurückzukehren. Ich weiss es so genau, weil Ihre Streckbewegung meinen Blick magisch anzieht. In diesem Moment die Zeit zu checken, war zu Beginn eine Marotte. Heute richte ich meine Pausen nach Ihren. Ihre Disziplin treibt mich auch wieder an die Tastatur, obwohl ich alle Zeit der Welt habe, um meinen Bericht über die Kundenaktivitäten in USA zu schreiben und Anfragen über Lieferengpässe zu beantworten.

Nachdem ich den letzten Flieger von New York nach Zürich erwischen konnte, bevor weltweit die Schotten dichtgemacht wurden, bin ich in meiner eigenen Mini-Wohnung gegroundet. Ich will ehrlich zu Ihnen sein: dieses Zweizimmer – Bad – Küche Appartement kenne ich nur flüchtig. Meine Heimat sind die Flughäfen und Hotels dieser Welt, Büros und Fertigungshallen, mal kühl und stahlblank, mal stickig und verdreckt. An den Abenden Menschenmassen in Shanghai, pulsierende Clubs in Miami oder ein hektischer Markt in Mumbai.

„Frauen?“, würden Sie wahrscheinlich nicht fragen in Zeiten von „Me too“ und LGBT. Ich kann Sie beruhigen. Die einzigen weiblich klingenden Namen, die mich in letzter Zeit beschäftigt haben, sind Greta und Corona. Greta möchte ich nicht treffen, denn wie soll ich ihr erklären, warum ich meine Brötchen mit dem Fliegen verdiene? Corona möchten wir alle nicht begegnen.

Nun aber mache ich die Bekanntschaft von Marie. Meine Cousine schenkte mir Maries Buch „Magic Cleaning“ zu Weihnachten. Ihre Bemerkungen, die Autorin sei eine gefeierte It-Queen und ich hätte es nötig, veranlassten mich das Werk in eine Küchenschublade zu knallen. Es fällt mir in die Hände, als ich nach dem Backblech suche, um die gelieferte Pizza aufzuwärmen. Während mir beim Essen der Belag auf die Tischplatte tropft, lese ich, dass man nur behalten soll, was einen glücklich macht. Von wegen It-Queen. Japanisch korrekt ist Marie Kondo die Zen-Meisterin der Ordnung.

Kennen Sie diesen Moment des Zens, wenn die angebliche innere Ruhe den Weg zur nächsten Tat weist? Bevor mich also der Mut verlässt, putze ich den Tisch, gehe ins Schlafzimmer und krame aus der Ecke des Schranks die mehrmals umgezogene Schachtel. Nie habe ich sie öffnen wollen, obwohl meine Mutter sie mir als Erinnerung an meinen Vater übergab. Warum soll ich mich mit einem Menschen befassen, der uns eines Tages in einem Flugzeug verliess. Ein paar Jahre kamen noch Postkarten mit Wasserbüffeln und Reisfeldern drauf. Dann starb meine Hoffnung.

Die Wut auf meinen Vater aber lebte in mir weiter. Meine Mutter versuchte, mir zu erklären, dass er sich nicht anders hatte entscheiden können. Also fällte auch ich meine Entscheide: keine Liebe und kein Heim, sondern ein Job, der mich durch die Welt flüchten lässt. Jetzt aber steht diese Welt still und die Schachtel liegt neben mir auf dem Bett. In Ihrem Zimmer geht das Licht an und Sie üben den „Yoga-Krieger“ vor dem Laptop. Ich stelle mich meinen Dämonen, indem ich die Schachtel öffne. Briefe, zu Bündeln geschichtet. Ein feiner Geruch nach Limette und Jasminreis. Mit einem Kissen im Rücken beginne ich zu lesen.

Im Süden von Laos. Der Mekong überflutet das Dorf. Die Ernte ist dahin und die Arbeit der Bevölkerung einmal mehr umsonst. Schwüle drückt alles in den Boden. Mücken drohen mit Dengue. Sein Wissen ist die Hilfe von aussen, ohne die es nicht zu schaffen ist. Mit dieser Reise hat er sich einen Traum erfüllt. Er ist als Tourist gekommen und bleibt als Helfer, da diese Menschen ihn dringender brauchen als seine Frau und sein Sohn in der Schweiz. Aber ich hätte ihn ebenso nötig gebraucht, schreit es in mir.

Die Schachtel kracht zu Boden. Ich nehme das Kissen in meine Arme, drücke mein Gesicht hinein und bleibe gekrümmt liegen. Langsam taucht aus dem schwarzen Sumpf ein Gedanke auf. Ich habe meinen Weg ohne ihn geschafft! Jetzt aber will ich die Chance für eine neue Richtung spüren – ein Heim und die Liebe.

Am Morgen erhellt die Sonntagssonne meine Wohnung. Ich begrüsse Marie Kondo mit einer Verbeugung und beginne mit dem magischen Aufräumen. Am Ende des Tages besitze ich nur noch, was mich glücklich macht. Die Schachtel gehört auch dazu.

Als Sie Montag morgen lüften, nutze ich die Gelegenheit, reisse mein Schlafzimmerfenster auf und rufe: „Auch im Home- Office?“

Du nickst, lächelst und prostest mir mit der Kaffeetasse zu.